Overview
Bei Ihrer Pilzsuche verursachen Wolf und Seele Chaos in einer Entenfamilie. Und durch Zufall haben die beiden bald einen ungewöhnlichen Reisegefährten – ein Entenküken. Diese Fan Fiction basiert auf Teilen des Spiels “Lost Ember”. Alle Bilder in der Geschichte – so seltsam sie teilweise wirken mögen – sind tatsächliche Screenshots aus dem Spiel, die außer einem gelegentlichen Zuschnitt oder Aufhellen nicht bearbeitet wurden.Sie können diese Geschichte für private, nicht-kommerzielle Zwecke kopieren, aber ich bitte darum, sie nicht ohne Erlaubnis an anderer Stelle zu veröffentlichen.An english version of this story is available here.
Kapitel 1 – Eine ungewöhnliche Begegnung
Es lebte einmal ein kleines Entlein in einem Nest, hoch oben über einer malerischen Landschaft in Level 1 des Spiels “Lost Ember”. Vom Nest aus konnte man viele Berge sehen, die wie Zuckerhüte in der Landschaft standen, dazwischen schmale Täler mit Tümpeln und Bächen. Der Entenjunge lebte dort oben zufrieden mit seinen Eltern und drei anderen Geschwistern. Sie hatten weiße Daunen, er war der einzige der vier mit schwarzem Gefieder und fragte sich, ob das etwas bedeutete. War er deswegen anders?
Des öfteren kamen die Kolibris vorbeigeschwirrt, die in der Nachbarschaft lebten. Sie warfen einen flüchtigen Blick in das Nest der Moschusentenfamilie und flogen weiter. Das Entlein wünschte, es könnte irgendwann so gut fliegen wie sie.
Eines Tages – Mutter Ente huderte gerade ihren Nachwuchs im Nest – schwirrte wieder einmal ein grüner Kolibri um das Nest herum. Aber er war nicht allein. Bei ihm war ein roter Ball, so hell dass man kaum wagte, ihn anzusehen. Die Entenmutter schrie vor Schreck auf und suchte das Weite. Ihre Kinder drängten sich ängstlich zusammen. Nur der schwarze Entenjunge schaute mit Staunen auf den roten Ball. ‚Was konnte das bedeuten?‘ Aber ehe er dazu kam zu fragen, schwebten der Kolibri und der rote Ball von dannen.
Die Entenküken warteten Minuten, sie warteten eine Stunde. Aber ihre Mutter kam nicht zurück. Die Dinge sahen nicht gut aus. Im Gegenteil, die Situation spitzte sich zu. Denn aufgrund eines Bugs im Computerspiel begannen sich die Küken plötzlich zu vervielfältigen. Das schwarze Küken stellte erstaunt fest, dass es auf einmal sieben Geschwister hatte … und kurz darauf waren sie bereits zwölf. Nach einiger Zeit drängten sich insgesamt 20 schwarze und weiße, jammervoll piepsende Küken auf dem kleinen Felsvorsprung. Und Mutter Ente war noch immer nicht zurück!
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In dieser Situation kamen der grüne Kolibri und sein schwebender roter Begleiter erneut vorbeigeflogen. Das schwarze Entlein ganz vorn am Nestrand nahm allen seinen Mut zusammen und piepste, so laut es seine kleine Stimme hergab:
„Hilfe!!!“
Tatsächlich stoppte der Kolibri seinen Flug und schwirrte vor dem Nest auf der Stelle, wie wohl nur Kolibris es können. Er schaute mit Verwunderung auf das Entlein, sagte aber nichts. Stattdessen kam eine Stimme aus der neben ihm schwebenden rotglühenden Kugel.
„Hallo, kleines Küken. Kann ich irgendwie helfen?“
„Was … äh … ich… ich denke, ja.“ antworte das Junge erschrocken. „Kannst du unsere Mutter finden? … Bitte“ fügte es noch hinzu.
„Tut mir leid, Kleines. Wir sind eigentlich nicht hier, um Gänse zu suchen… “
„Enten! Wir sind Entenküken!“
„… Was auch immer. Wir sind auf einer Mission, und ich befürchte, die Suche nach verloren gegangenen Enten ist nicht Teil davon.“
„Aber … aber du hast meine Mutter verscheucht, gerade vorhin. Erinnerst du dich nicht?! Und schau, was seitdem hier los ist.“ Das Küken drehte sich um und zeigte mit dem Schnabel auf den schwarzweißen Ball aus Flaum hinter ihm, aus dem Dutzende Augen die Konversation mit scheuer Neugier beobachteten.
„Schau … Das tut mir echt leid, aber wir mussten halt überall nachsehen. Auch hier. Wir haben immer noch nicht alle Pilze gefunden.“
“Eure Mission ist es also, Pilze zu sammeln?” hakte das Entlein nach.
„Äh … nicht ganz.“ antwortete der Ball. „Eigentlich sind wir, also der Wolf und ich, auf der Reise zur Stadt des Lichts.“ Dabei machte die Kugel eine Bewegung in Richtung Kolibri.
Das Küken sah den Ball schief an.
„Also nachdem was Mutter uns erzählt hat, habe ich mir Wölfe deutlich anders vorgestellt.“
Der Kolibri ließ ein entrüstetes Zwitschern hören und die rote Kugel kreiste etwas, bevor sie antwortete.
„Du Kleiner. Was weißt du schon? Du hast wahrscheinlich bislang nicht mehr gesehen, als du von deinem Nest aus erblicken kannst. Schöne Aussicht, keine Frage. Aber da gibt es Dinge zwischen Himmel und Erde, die jenseits deiner Vorstellungskraft liegen. Schau, der Wolf ist ein Seelenwanderer. Er hat einfach den Kolibri übernommen, so dass wir aus der Luft nach Pilzen suchen konnten. Hättest du gesehen, was wir schon gesehen habe, wüsstest du, dass in dieser Welt vieles möglich ist, das dir seltsam erscheint.“
„So wie das, was mit dem Nest hier passiert ist? Bis vor kurzem hatte ich drei weiße Geschwister und nun sind es …“ Das Küken begann zu zählen, aber bei Zwölf gab es auf. „Nun sind es zu viele von uns hier oben.“
„Genau das meine ich. Und um dieses und weitere Geheimnisse dieser Welt zu entdecken, genau deswegen sind wir auf dieser epischen Reise. Weißt du, diese Wölfin …“
„Kolibri.“
„Was auch immer. Jedenfalls, die Wölfin, die ich meine … sie hat eine Geschichte, die ich noch nicht verstehe. Alles was ich bisher weiß, ist, dass sie in ihrem vorigen Leben „Kalani“ hieß. Und offenbar bin ich ihr Seelenführer, um sie zu einem Ort zu bringen, wo sie zur Ruhe kommen kann, bevor auch ich die Stadt des Lichts erreiche. Weißt du … ich bin nicht einfach ein rotglühender Ball, ich bin eine Seele. Und meine Aufgabe ist es, diesem Wolf zu helfen.“
Das Küken verstand kein Wort. Aber ein Gedanke formte sich in seinem Kopf. Vielleicht war das hier die Chance seines Lebens.
„Hey, Ball … äh … Seele.“ begann es aufgeregt. „Kann ich euch begleiten?“
„Hah … nein, tut mir leid. Das ist keine Reise für ein kleines Entenküken. Ich schätze, du kannst ja noch nicht mal fliegen.“
Für einen Moment herrschte Stille. Dann aber atmete das Entenjunge tief ein, schlug wild seine Flügelchen und erhob sich knapp einen halben Meter, ehe es weder auf den Nestrand zurückfiel:
„Ich bin geflogen!“
Der Kolibri machte ein Geräusch, dass wie ein helles Lachen klang und drehte in der Luft einen Rückwärtssalto, als wollte er zeigen: ‚Das nennt man Fliegen.‘
„Ich fürchte, das wird nicht ausreichen, Kleiner.“ sagte die Seele langsam.
Aber da hatte das Küken bereits wieder abgehoben, und dieses Mal purzelte es über den Nestrand und hinunter von dem Felssims. Aber seine kurzen Flügelchen konnten es noch nicht tragen, und es fiel wie ein Stein in Richtung des Teichs, der sich unter dem Felsvorsprung befand. Der Kolibri sauste dem Küken nach, in der Hoffnung, es irgendwie noch im Fallen zu erwischen … bis plötzlich … etwas Unerwartetes geschah. Es schien, als ergriffe ein magischer Windstoß das Entlein. Und nach einem Augenblick, den es brauchte, um seine Orientierung wiederzufinden, sah es aus, als watschelte der schwarze Daunenball auf seinen kleinen Füßchen eine unsichtbare Treppe hinab. So erreichte er sicher die Oberfläche des Teichs, etwa fünfzig Höhenmeter tiefer.
Schwer zu sagen, wer von den Beobachtern dieses Vorgangs am meisten überrascht war.
„Ich kann fliegen!!!“ trompetete das Entlein.
„Das war doch nur ‚Gleiten‘.“ hörte es die quakende Stimme einer nahen erwachsenen Ente. „Und vermutlich hattest du noch Glück mit dem Wind.“
„Das war erstaunlich. Wie hast du das gemacht???“ Der rote Ball schwebte nun dicht über der Wasseroberfläche. „Vielleicht steckt doch mehr in dir als ich angenommen hatte …“
… Als ob das Entlein nicht schon aufgeregt genug war, nach all dem, was passiert war. Es schwamm im Kreis und versuchte, in seinem kleinen Köpfchen all die wundersamen Ereignisse zu verarbeiten.
Da surrte der grüne Kolibri direkt neben den beiden. Als er sicher war, dass das Entlein ihm Beachtung schenkte, zeigte er mit seinem Schnabel auf das Ufer des Teichs, wo etwa ein Dutzend schwarzer und weißer Enten versammelt saßen. Dann jagte er in die Gegenrichtung und einen Hang jenseits des gegenüberliegenden Ufers hinauf, wo er über einer weiteren Gruppe von Enten in der Luft stehen blieb.
„Mein Freund hat recht.“ sagte der rote Ball. „Hier unten sind so viele Enten. Ich bin zuversichtlich, du wirst unter ihnen bald deine Mutter wiederfinden. Ich schlage vor, du suchst hier ein bisschen und fragst dich durch, während wir nach den verbleibenden Pilzen schauen.“
„Aber bitte, bitte kommt zurück, falls es nicht klappt.“
„Okay, ich schaue bald nochmal vorbei.“ sagte die Seele, und unter den neidischen Augen des Kükens erhob sie sich mit dem Kolibri zusammen gen Himmel und verschwand kurz darauf zwischen den Zuckerhutbergen, die den Teich und das Flüsschen umgaben.
„Eines Tages werde ich ihnen folgen.“ seufzte das Küken und schwamm in Richtung der am nächsten befindlichen Gruppe Enten.
„Mama, Papa, seid ihr hier?“
Nur wenige beachteten das kleine Entlein, niemand antwortete.
Kapitel 2 – Neue Gefährten
Etwas später am Tag saß das kleine, schwarze Entlein am Ende eines umgefallenen Baumstammes, der vom Ufer in den Bach hineinragte. Der Bach führte direkt in den Tümpel unter seinem bisherigen Nest. Es war ein friedlicher Ort, und auf den flüchtigen Blick machte es den Anschein, als nähme das Entlein auf dem Baum einfach ein Sonnenbad. Nur war es halt recht allein dort.
Der Entenjunge schaute gen Himmel, zu seinem Nest und wieder in den Himmel. Er wartete eine ganze Weile, bis er endlich das vertraute Surren von Kolibriflügeln in der Nähe vernahm. Und tatsächlich, ein grüner Kolibri flog in Richtung des Tümpels, weiterhin begleitet von dem leuchtend roten Ball, der in der Luft tänzelte, als wäre er etwas unsicher, wohin er wollte.
„Hier bin ich“ piepte das Küken. „Hier drüben.“
Und tatsächlich kamen Kolibri und Seele – fast schon zögernd – zu ihm her.
„Du … hast deine Mutter nicht wiedergefunden, oder?“
Eine gewisse Traurigkeit lag in der Stimme des Entleins, als es antwortete.
„Leider noch nicht. Da waren so viele Enten am Teich und seltsamerweise wussten die meisten auch gar nicht, wie sie überhaupt dahingekommen waren. Aber meine Eltern waren nicht darunter. … Und was ist mit euch? Habt ihr eure Pilze gefunden?“
„Nun ja … fast“, antwortete die Seele etwas niedergeschlagen. „Alle bis auf einen. Es ist verrückt, wir haben auf den höchsten Gipfeln gesucht, sind durch jeden Felsbogen geflogen, durch jede Höhle.“ Wir haben unter Bäumen nachgesehen, haben die Berge umkreist, wir … wir konnten den letzten einfach nicht finden!“
„In diesem Fall sollte ich euch etwas zeigen.“
Das Entlein schlug mit seinen Flügelstummeln und hüpfte vom Baumstamm ins Wasser direkt vor das Ende des Baumstamms. Dort drehte es sich um und schwamm in den hohlen Stamm hinein. Der Kolibri schaute fragend zur Seele und folgte ihm dann in die enge Röhre. Er stieß einen Pfiff der Begeisterung aus, als er erkannte, dass am anderen Ende im Baumstamm einige zierliche braune Pilze auf dünnen schwarzen Stängeln standen. Wenig beeindruckend – und doch: Es war genau, wonach Kolibri und Seele gesucht hatten. Der Kolibri berührte die Pilze, und ihre Sporen verteilten sich in der Umgebung.
Als beide, Entlein und Kolibri, den hohlen Stamm wieder verlassen hatten, schwamm das Küken auf den roten Ball zu.
„Siehst du, ich kann ab und an auch einen Pilz finden. Bitte, bitte kann ich mit euch kommen. Ich verspreche, ich werde mich nützlich machen.“ Und als die Seele nicht gleich eine Antwort gab, fügte es hinzu: „Wegen dir habe ich meine Mutter verloren. Du kannst mich doch jetzt nicht einfach so allein hier sitzen lassen…“
„Hab‘s schon kapiert, Kleines. Du suchst echt das Abenteuer, nicht wahr?”
“Ich suche zumindest Gesellschaft.”
“OK, du Glückspilz, dein Pilz hat uns Glück beschert, und offenbar dir auch. Weißt du, was wir in der Zwischenzeit herausgefunden haben: Auf unserem weiteren Weg gibt es einen Wasserfall, durch den der Kolibri seltsamerweise nicht hindurchfliegen kann. Muss wohl auch so eine Art Magie sein. Er kam einfach nicht hindurch.”
“Habt ihr etwa versucht, ohne mich weiterzureisen?!”
„Wir … äh … haben nur nachschauen wollen, ob der fehlende Pilz eventuell in der Höhle zu finden ist, die sich offenbar hinter dem Wasserfall befindet.“ Zum Glück konnte der rote Ball nicht noch vor Scham erröten.
„Jedenfalls … da ich gern weiterhin gefiederte Begleitung hätte, könntest genauso gut du mich begleiten. Ich bin gespannt, ob du den Wasserfall durchqueren kannst. Wenn du den Wasserfall bezwingst, dann verspreche ich dir, dann werde ich dich überall hin mitnehmen, wo dich deine kleinen Füße und Flügen hintragen. Ich denke nicht, dass mein derzeitiger grüner Begleiter etwas dagegen hat.“
Der Kolibri stieß einen kurzen Triller aus.
„Also, wenn du mir und dem Wolf helfen möchtest, die Antworten zu finden, die wir suchen, dann verspreche ich, dass wir nach deiner Mutter Ausschau halten. Klingt das nach einem fairen Angebot?
„Ja, ja, ja!“ Das Entlein schlug mit seinen Flügeln und hüpfte freudig auf dem Wasser herum.
„Spar‘ dir deine Energie, Kleiner! Es ist ein langer Weg bis zum dem Wasserfall für jemanden wie dich, das kann ich dir verraten. Nun … ich kann leider nicht mit euch beiden – dem Wolf und dir – zur gleichen Zeit reisen, und ich kann dich beim besten Willen auch nicht tragen. Daher ist es unvermeidlich, dass der Wolf für die Reise von dir Besitz ergreift.“
„Der Wolf wird mich … fressen?!“
„Ganz und gar nicht. Es wird dir nicht schaden – schau, genauso wenig wie es dem Kolibri geschadet hat. Er wird nur in deinen Körper schlüpfen. Man könnte also eher sagen, dass du den Wolf frisst.“
Als die Seele das fragende Gesicht des Entleins sah, fügte sie hinzu:
„Der Wolf ist ein Seelenwanderer. Ich kann auch nicht erklären, wie genau er das macht. Du musst es einfach mit eigenen Augen sehen.“ Und zum Kolibri gewandt: „Kalani, wärest du so nett?“
Der Kolibri zuckte mit den Flügeln und fokussierte das Entlein. Ein Blitz aus Energie und Gedanken sprühte aus seinem Körper in den des Entleins, und ehe es auch noch ein Wort sagen konnte, war der Wolf in seinem Körper. Der Kolibri hingegen blickte noch einmal zweifelnd auf das Knäuel aus schwarzen Federn, und schon flog er davon, wieder mit eigenen Dingen beschäftigt.
„Danke, mein Freund“, rief ihm die Seele nach. Und zum Entlein gewandt:
„Nun, wie fühlt es sich an, ein Wolf im Daunenkleid zu sein?“
„Ich fühle mich irgendwie … entschlossener?“ antwortete das Entlein, noch immer etwas benommen“
„Ha! Also ob du das vorher nicht schon gewesen wärst!“
Die Reise verlief ab nun etwas langsamer, als die Seele es bisher gewohnt war. Es war schon ein Unterschied, ob man mit einem Wolf reiste, der über die Wiesen rannte, mit einem Kolibri, der durch die Luft flitzen konnte … oder eben mit einem Entenküken, dass durch das Gras watschelte, dass bis über seinen Kopf ragte. Mehr als einmal fragte sich die Seele, ob eine ausgewachsene Ente nicht vielleicht die bessere Wahl gewesen wäre. Aber andererseits dachte sie sich: ‚Ich bin bereits tot, Kalani ist auch längst gestorben. Wir sind im Leben nach dem Tod. Als ob es da noch Eile braucht.‘ Und so beobachtete sie, wie das Entlein sich zielstrebig auf Pfaden und über Wiesen vorwärtsbewegte. Manchmal sprang es in die Höhe, um über das Gras schauen zu können, ob die Richtung noch stimmte. Hin und wieder dirigierte auch die Seele das Küken auf den richtigen Weg in Richtung des Wasserfalls.
Unterwegs unterhielten sie sich darüber, was die Seele hergeführt hatte, wie sie den Wolf gefunden hatte und wie es den Anschein hatte, dass sie beide sich gleichermaßen benötigten. Da wurde dem Küken bewusst, dass es Wissen und Erinnerungen in sich trug, die es vorher nicht kannte, die nicht seine eigenen waren. Als es der Seele davon erzählte, kam diese ganz nah zu ihm und sagte leise:
„Du bist jetzt die Wölfin. Und die Wölfin war in ihrem vorigen Leben Kalani, diese Menschenfrau, von der ich dir erzählt habe. Ihre Erinnerungen trägst du jetzt gerade in dir. Gut möglich, dass du dich an etwas aus ihrem Leben oder aus dem der Wölfin erinnerst.“
Das Entenküken sagte dazu nichts. Es fühlte nur, dass das Leben von einem Tag auf den anderen irgendwie viel komplexer geworden war. Und es hoffte, dass es sich daran gewöhnen würde.
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Nach einer gefühlten Ewigkeit hatten die beiden tatsächlich ein Gebiet erreicht, wo die Berge näher an den Pfad heranrückten, der an dieser Stelle ein regelrechter Hohlweg war. Einige Minuten später betraten Sie einen enge Schlucht, durch die ein kleiner Bach floss. Erleichtert ließ sich das Entenküken ins Wasser fallen und plantschte ein wenig.
„Du hast das Wasser vermisst, nicht wahr?“ bemerkte die Seele
„Oh ja.“
„Schau, da drüben ist der Wasserfall, über den ich geredet hatte.“ Die Kugel schwebte etwas in Richtung zum gegenüberliegenden Ende der Schlucht, wo sich aus einer Öffnung Wasser ergoss und der Weg zu einer flachen Pfütze wurde. „Der Wasserfall, durch den der Kolibri nicht hindurchkam.“
„Hmm … ob ich wohl durchkomme?“
Und schon schwamm das Entlein den Bach hinauf bis zum Wasserfall. Als es sich diesem jedoch näherte, hörte es ein seltsames Geräusch, und zu seinem Erstaunen erschienen komplett rote Gestalten von Menschen, die einige Gegenstände vom Weg bis unter den Wasserfall schleppten. Das Entlein stoppte vor Erstaunen auf der Stelle – noch nie hatte es eine derartige Magie gesehen.
„Keine Sorge.“ hörte es die beruhigende Stimme der Seele hinter sich. „Das sind nur Erinnerungen. Kalanis Erinnerungen. Genau danach suchen wir … unter anderem. Ich glaube … ich hoffe, sie werden uns auf unserer Reise leiten.“
Und so schnell wie die roten Gestalten erschienen waren, verschwanden sie auch wieder.
Nun waren es nur noch wenige Meter, bis sie endgültig am Wasserfall standen. Das schwarze Entlein lief direkt darunter und schien den Schauer von oben regelrecht zu genießen, während die leuchtende Kugel etwas davor verharrte. Jetzt waren es nur noch wenige Schritte …
„Ich bin in der Höhle.“ hörte die Seele die etwas dumpf klingende Stimme des Entleins durch das Rauschen des Wasserfalls.
Der schwebende Ball hatte inzwischen auch den Wasserschleier durchquert, was seine Leuchtkraft aber in keinster Weise beeinträchtigte.
„Toll, ich hatte schon befürchtet, hier könnte womöglich nur ein Wolf hinein.“
„Vielleicht kann ich es, weil ich ein Wasservogel bin?“ dachte das Küken laut nach. „Es ist immerhin ein Wasserfall.“
„Wenn das Leben immer so logisch wäre…“ antwortete darauf die Seele, und als sie aus dem Halbdunkel zurück durch den sonnenbeschienenen Wasserfall schaute, erschien ihr dieser Ort ein guter Rastplatz für die Nacht.
„Ich finde, wir sollten hier eine Pause machen. Was meinst du?“
„Nun ja …“ antwortete das Entlein. „Wenn ich ehrlich bin … ich bin noch nie an einem Tag so weit gelaufen wie heute. Ich bin echt müde.“
„Das glaube ich dir. Du bist sicher noch nicht der flinkeste Läufer, aber dein Durchhaltewillen ist schon erstaunlich.“
Als es sich das Entlein gerade am Rande einer Wasserpfütze gemütlich machen wollte, spürte es ein gar seltsames Gefühl, eine Art Prickeln. Einen Moment später stand eine ausgewachsene, schwarze Wölfin wie eine Bronzestatue neben ihm. Sie streckte erst ihre Vorderbeine, dann ihre Hinterläufe und schaute dann hinunter auf das Entlein neben ihr, dem in diesem Moment durchaus unwohl war. Die Stimme der Wölfin war dunkel, aber ruhig.
„Ich dachte mir, du möchtest die Nacht vielleicht lieber mit deinen eigenen Gedanken als den meinigen verbringen. Deswegen habe ich wieder meinen eigenen Körper angenommen. Wenn dir meine Gegenwart nichts ausmacht, würde auch ich hier gerne etwas ruhen.“
„Nein … ich meine … ja, du kannst … äh … kannst hier bleiben.“ stotterte das Entlein. „Ich … ich hoffe nur, du willst mich nicht … zum Abendbrot essen.“
„Jetzt wo du‘s sagst … ich habe einen Bärenhunger.“
Aber als die Wölfin sah, dass das Küken vor Angst am liebsten im Boden versinken würde, fügte sie schnell hinzu:
„War nur ein Scherz. Darum kümmere ich mich später. Ich werde jawohl nicht meine Reisegesellschaft essen, noch dazu, wo sie angeboten hat, mir zu helfen. Ich pflege meine Freunde nicht zu verspeisen. Ach … da fällt mir ein: Vielleicht sollten wir uns erst einmal vorstellen. Wie ist dein Name, Kleiner?“
„Name … ich weiß nicht. Ich habe noch keinen Namen bekommen. Brauche ich einen?“
”Nun ja, als Wolf hatte ich eigentlich auch nie einen Namen. Es ist ein einsames Leben, selten jemand, der sich mit einem unterhalten möchte. Aber in meinem früheren Leben, so erinnere ich mich dunkel, hat man mich ‚Kalani‘ genannt. Du kannst mich also gern ‚Kalani‘ nennen … oder einfach ‚Wolf‘, wie es die Seele öfters macht.“ Sie nickte in Richtung der glühenden Kugel, die nicht weit entfernt von Ihnen über dem Pfad kreiste. „Nun, wenn du noch keinen Namen hast, werde ich dich einfach ‚Kleiner‘ nennen, bis wir einen passenden Namen für dich gefunden haben.“
Die Wölfin streckte sich erneut legte sich neben das Küken ins Gras und schaute dem Wasserfall am Höhleneingang zu. Die Sonne verschwand nun hinter den umgebenden Bergen. Das Entenküken entspannte zusehends.
„Entschuldigung, kann ich dich etwas fragen?“ piepste es.
„Natürlich, alles. Nur erwarte nicht, dass ich auch die Antwort auf alles weiß.“
„Okay. Warum sucht ihr beiden eigentlich nach allen Pilzen im Revier? Mutter hat mal erzählt, dass einige als Medizin geeignet sind, aber…“
Die Wölfin lachte.
„Ha ha, danke, wir sind gesund. Also ich zumindest, und die Seele hat längst andere Sorgen. Nein, diese Pilzsuche … das ist eine Art Spiel. Zum einen hilft es uns, auch wirklich all die Hinweise zu finden, die wir benötigen, um herauszufinden, warum wir noch nicht in der Stadt des Lichts sind. Außerdem habe ich das Bauchgefühl, dass diese Pilze nicht nur zufällig dort herumstehen und darauf warten, dass jemand ihre Sporen verteilt. Sie dienen vermutlich einem größeren Ziel, aber ich muss zugeben, ich weiß bisher nicht, welchem. Noch nicht. Tut mir leid, wenn dich diese Antwort nicht ganz zufriedenstellt.“
„Schon okay, Wolf.“
„Ich denke, es ist nun an der Zeit, dass wir beide uns mal etwas Schlaf gönnen. Unser glühender Freund ist in einem Zustand, in dem Dinge wie Eile, Müdigkeit, Hunger und Durst keine Probleme darstellen, aber im Gegensatz zu ihm bin ich immer noch ein Wolf … und ich muss Kräfte sammeln für die Abenteuer, die morgen auf uns warten.“
Und damit legte sie Ihren Kopf auf Ihre Pfoten, und schon bald darauf konnte man ihren ruhigen Atem vernehmen. Sie war eingeschlafen. Das Entenküken pickte noch ein paar Kräuter in der Nähe, bedauerte das Fehlen eines gut gepolsterten Nests und hockte sich in eine kleine grasbewachsene Vertiefung in der Nähe. Kurz darauf war es ebenfalls eingeschlafen.
Kapitel 3 – Die Gabe des Fliegens
Am nächsten Morgen wachte das Entlein auf, weil es das Gefühl hatte, dass irgendjemand seinen Rücken berührte. Noch ziemlich schlaftrunken, versuchte er sich zu erinnern, was am Tag zuvor passiert war. Bilder von seinem Sprung aus dem Nest erschienen vor seinem geistigen Auge, Bilder einer rotglühenden Kugel und … eines Wolfes. Eines Wolfes, dessen große, schwarze Nase sich in diesem Moment genau hinter ihm befand und ihn leicht anstupste, wie er überrascht feststellte. Er stolperte beim Aufstehen über seine eigenen Füßchen, fiel seitwärts und versuchte, sich erneut aufzurappeln.
„T‘schuldigung Kleiner, ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte die Wölfin sanft. „Ich dachte nur, wir könnten beizeiten aufbrechen. Alles okay bei dir?“
„Ich … denke schon.“ antworte das Küken, nachdem es endgültig auf seinen Beinen stand und ihm klar geworden war, wo es sich befand. „Lass mich bitte nur ein Bad nehmen, und dann bin ich startklar.“
„Kein Problem“ mischte sich die Seele ein. „Ich habe jede Menge Zeit…“
Einige Minuten später kam das Entenjunge zu Wolf und Seele zurück:
„Bereit für große Abenteuer!“
„Das ist gut,“ antwortete die Wölfin, „aber zuerst muss ich wieder deinen Körper übernehmen. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.“
„Na ja, ich werde mich dran gewöhnen, aber … machst du dieses ‚Übernehmen‘ eigentlich ständig? Bist du gern jemand anderes?“
Die Wölfin lächelte.
„Hab‘ mir schon gedacht, dass diese Frage früher oder später kommen würde. Es ist aber nicht so, dass ich nur zum Spaß eine Ente, einen Wombat oder einen Kolibri übernehme. Zumindest ist das nicht der Hauptgrund. Genaugenommen wäre mir so ein Wombat als Mittagessen deutlich lieber. Der Punkt ist: Meine Fähigkeiten als Wolf haben ihre Grenzen. Ich mag ein schneller Läufer sein, und mein Heulen bringt die Menschen zum Fürchten, aber was etwa das Fliegen angeht, da bin ich eher … schlecht.
Aber das ist nur der eine Grund. Der andere – und der ist in diesem Fall der Entscheidende – ist: Ohne, dass ich in deinem Körper bin, würdest du nicht in der Lage sein, diese Reise fortzusetzen. Du würdest umkehren und nach Hause laufen, oder einfach nur in der Gegend herumstehen und nicht wissen, wohin. Ich weiß, das klingt sehr seltsam, aber ich spreche aus Erfahrung. Erinnerst du dich noch an den Kolibri gestern? Sobald ich seinen Körper verlassen hatte, ist er auf und davon geflogen, ohne sich auch nur einmal nach mir umzusehen. Tja, in gewisser Weise bin ich ein einsamer Wolf.“
„Wie bitte?!“ unterbrach ihn die Seele, leicht ungehalten. „Du hast gerade mehr Gesellschaft als die meiste Zeit in deinem Wolfsleben zuvor!“
„Oh, bitte verzeih‘, Seele. Ich wollte deine Gesellschaft in keiner Weise geringschätzen. Ich meinte nur, in Bezug auf andere Tiere, Gefährten aus Fleisch und Blut. Dieser Entenjunge ist der erste, der sich wirklich dafür interessiert, was ich tue.“
„Das liegt aber wohl eher daran, dass es der erste ist, dem du dich ordentlich vorgestellt hast.“
„Vielleicht…“ antwortete die Wölfin gedankenversunken. Und wieder dem Entlein zugewandt:
„Jedenfalls sollte ich jetzt wieder in deinen Körper hinüberwechseln, damit wir losziehen können. Bereit?“
„Bereit.“
Wieder fühlte der Entenjunge das Prickeln, wieder strömten fremde Gedanken und Erinnerungen durch seinen Kopf, und er fühlte dieses Ziel, diese Bestimmung, die sie alle hatten.
Auch an diesem Morgen leitete die Seele das Entenküken auf seinem weiteren Weg, hinaus aus der anderen Seite der kurzen Höhle und in eine weitere Schlucht, durch die sich ein idyllischer Pfad hinaufwand. Zu beiden Seiten versperrten hohe Felswände jegliche andere Route.
„Ich habe mich mal etwas umgesehen, während ihr geschlafen habt. Ich denke, der weitere Weg wird dir gefallen.“
„Ist dort ein See? Oder eine Wiese mit Wildkräutern?“ fragte das Küken. Aber die Seele wollte keine weiteren Details verraten.
So schnell seine kleinen Füße es trugen, folgte das Entenjunge dem Pfad, machte nur ab und zu einen kleinen Abstecher links und rechts, um nach möglichen Pilzen zu schauen. Da der Wolf ihn als Gefährten akzeptiert hatte, so meinte er, sei en nun quasi verantwortlich für diese Pilzsuche. Und vielleicht würde er dabei ja auch seine Mutter wiederfinden.
Der Weg führte vorbei an einem markanten Baum mit rosa Blättern, wie in das Küken zuvor noch nicht gesehen hatte. Und bald darauf erreichte es das Ende der Schlucht. Der Blick weitete sich, aber das Entenküken bemerkte das fast nicht, bis plötzlich das hohe Gras endete und es feststellte, dass es sich auf einem Felsvorsprung befand. Der Pfad verlief nun zur rechten bergab, aber voraus konnte man in der Ferne etliche grasbedeckte Berge sehen. Die meisten davon schienen auf ihren Kuppen Ruinen von Häusern oder Burgen zu tragen. Ihre Hänge waren in Terrassen umgestaltet worden. Eine Landschaft, so ganz anders als die Zuckerhutberge, die das Entlein bisher kannte.
„Was für eine Aussicht!“ stieß es voller Bewunderung aus. „Diese Welt ist … riesig. Und sie sieht interessant aus.“
„Dachte ich mir doch, dass dir die Aussicht genauso gut gefällt wie mir. Ich denke, in dieser Landschaft, in der einst Menschen lebten, werden wir etliche Antworten finden. Schau, siehst du die roten Feuer dort drüben?“ Der rote Ball schwebte ein Stück in Richtung der Rauchsäulen, als könnte er es nicht erwarten, dorthinzufliegen. „Diese Plätze beherbergen Erinnerungen an die Vergangenheit … so wie die Menschen, die du gestern Abend am Höhleneingang gesehen hast.“
„Sind das auch Erinnerungen daran, was mit meiner Mutter passiert ist?“ fragte das Küken?
„Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Aber es gibt nur einen Weg, das herauszufinden – lass uns nachsehen.“
Und damit schwebte der rote Ball nach rechts, wo der Abstieg hinunter ins Tal begann. Das Küken folgte ihm. Es war ein steiler, felsiger Bergpfad, teilweise noch mit alten, grauen Stufen und Steinen bedeckt, die den Eindruck erweckten, als sei der Weg bereits Jahrhunderte zuvor angelegt worden. Nur hatte ihn in letzter Zeit offenbar niemand mehr gepflegt. Das Küken versuchte manchmal, mit den Flügeln schlagend, ein Stück hinabzugleiten, aber seine Gleitkünste waren noch nicht wesentlich besser als am Tag zuvor. Mehr als einmal legte es eine Bruchlandung hin.
Links und rechts des Wegs war auch hier der Hang in Terrassen untergliedert worden, und das Küken machte geduldig einen Abstecher auf jede, fand auch tatsächlich hier und da eine Gruppe Pilze und pickte daran herum, wie es das vom Kolibri gesehen hatte, bis sich ihre Sporen verbreiteten.
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Einige Minuten später erreichten das Entlein und die Seele eine scharfe Kehre nach links. Dort, unweit des Abhangs, befand sich eines dieser „Feuer“, auf die die Seele hingewiesen hatte. Aber als das Entenjunge näher kam, stellte es überrascht fest, dass dort gar nichts brannte. Die Funken und der Rauch schienen aus dem Nichts zu kommen. Das Entlein legte seinen Kopf schief und beobachtete das ‚Feuer‘:
„Wie funktioniert das?“
„Vermutlich eine Art Magie. Es hat eine gewisse Ähnlichkeit zu mir – immerhin glühe ich auch feuerrot. Ich fürchte aber, ich kann es dir nicht wirklich ‚erklären‘. Aber ich kann dir sagen, wie du es aktivierst.“
„Aktivieren? Was meinst du damit?“ Das Küken wandte sich sich der Seele zu.
„Ich meine das Abspielen der Erinnerung. Du wirst es sehen. Du musst nicht mehr tun, als die Erinnerung zu rufen. Der Wolf hat sie immer mit einem langgezogenen Heulen aktiviert, aber ich schätze, das wäre für dich unpassend, selbst wenn du nun quasi ein Wolf bist.“
Aber das Küken wusste intuitiv, was zu tun war. Es streckte seinen kleinen Körper, hielt den Kopf in die Höhe und ließ einen helles Tschilpen ertönen.
Und tatsächlich erschienen Erinnerungen an ein junges Mädchen des Yanrana-Stammes, die ihr Namensmedaillon und ihren ersten eigenen Dolch von ihrem Vater erhielt. Ein stolzes, junges Mädchen. Die Seele erzählte dem Entlein, dass sie Zeuge einer ‘Wall’qa’ -Zeremonie waren, bei der ein jedes Kind der „Yanrana“ seinen Namen erhielt. Sie erinnerte sich daran, dass auch sie früher stolz gewesen war, bei dieser Zeremonie ihren eigenen „Tur’pui”-Dolch zu erhalten. Die Seele schaute auf das Namensamulett des Kindes.”
“Kalani – Wolf, das bist du als Kind!”
Und tatsächlich glaubte sich auch das Küken nun an diese Szene zu erinnern, eine Erinnerung aus einem anderen Leben, weder aus seinem noch aus dem des Wolfes. Das Küken benötigte einige Zeit, diese einzuordnen, aber dann wandte es sich an die Seele:
„Seltsam, ich glaube mich an diese Zeremonie erinnern zu können. Aber meine Mutter war ganz sicher nie mit mir hier. Wie kann das sein?“
„Das liegt daran, dass du die Wölfin in dir trägst. Dies sind ihre Erinnerungen, nicht deine. Du wirst dich vermutlich bald daran gewöhnt haben. Aber es ist sicher besser, wenn der Wolf dich von Zeit zu Zeit mal verlässt, sonst bekommst du womöglich irgendwann noch eine gespaltene Persönlichkeit.“
„Vermutlich hast du Recht.“ stimmte das Küken zu.
Die beiden setzten Ihre Wanderung den schmalen Bergpfad hinab fort. Dieser verlief nun nach links, leicht absteigend an einer steilen Bergflanke. Zur rechten, weit unten, konnten sie hunderte Meter entfernt eine der vielen Burgruinen sehen. Es war ein großes Glück, dass das Entenküken keine Höhenangst zeigte. Ansonsten hätte es wohl nicht gewagt, einen Baumstamm zu überqueren, der eine natürliche Brücke über eine Stelle bildete, wo offenbar zuvor ein Felssturz eine Lücke in den Weg gerissen hatte. Das Entlein hüpfte auf den Stamm und balancierte mit Leichtigkeit auf die andere Seite.
“Gut gemacht, Kleines.” kommentierte die Seele.
Nur eine kurze Zeit später drangen bekannte Laute an das Ohr des Kükens. Ein weißer Erpel landete nur wenige Meter vor ihm auf der Terrasse. Das Herz des Entleins hüpfte vor Freude, und es lief in dessen Richtung, so schnell es seine kleinen Beine zuließen.
Der Erpel stillte seinen Durst an einem kleinen Bach, der an dieser Stelle von links den Bergpfad überquerte und auf der rechten Seite als Wasserfall ins Tal stürzte. Als das Entlein den Bach erreichte, bemerkte es, dass sich zur Linken zwischen mehreren großen Felsen ein weiterer Wasserfall befand. Der kleine Tümpel darunter speiste jenen Bach, den es gesehen hatte. Und auf dem Tümpel schwamm eine Handvoll Enten.
Bevor es den erwachsenen Erpel ansprach, schaute sich das Küken um und stellte erleichtert fest, dass der feuerrote Ball etwas Abstand wahrte. Offenbar hatte er aus den gestrigen Ereignissen am Nest die richtigen Schlüsse gezogen…
„Hallo, ihr habt einen hübschen Platz hier oben.“ piepste das schwarze Küken vorsichtig. Der Erpel drehte sich zu ihm um, und auch eine Entenmutter auf dem See war sichtlich irritiert und begann, ihre Jungen zu zählen, konnte aber kein Fehlendes feststellen. Ihre vier Küken – drei schwarze und eine weißes – blieben ganz in ihrer Nähe.
Der weiße Erpel antwortete zuerst:
„Oh, willkommen hier … Du bist ein eher ungewöhnlicher Gast hier oben. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist einfach aus dem Himmel gefallen.“
„Nun … in gewisser Weise bin ich das sogar. Aber das war gestern und woanders.“
Der Erpel betrachtete sich den schwarzen Flaumball auf seinen kleinen Füßen und bemerkte die doch noch arg kurzen Flügelchen.
“Aber du bist wohl kaum hergeflogen, nicht wahr?
„Nein, ich kann noch nicht gut fliegen. Aber ich arbeite daran.“
„Arbeite daran … verstehe. Ich wüsste nicht, dass hier oben weitere Entennester sind, also musst du wohl einen ganzes Stück gelaufen sein. Aber wo sind deine Eltern?“
„Das ist genau der Grund, warum ich hier bin. Oder … zumindest ein Grund. Meine Mutter ist gestern verschwunden, und ich konnte sie noch nicht wiederfinden.“
„Verstehe. Nun, ich weiß nicht, wie deine Mutter genau aussieht, insofern kann ich nicht sagen, ob ich sie bei meinem Flug heute Morgen vielleicht gesehen habe. Ich habe ein paar andere Enten getroffen, an einem Teich weiter unten unter dem nächsten Wasserfall. Aber diese Enten hatten dieses Jahr keinen Nachwuchs, also werden es wohl kaum deine Eltern sein. Mit deinen Flügelchen hättest du es auch sicher nicht hier rauf geschafft. Aber vielleicht … ja, wir sollten diese Entenmutter dort fragen.“ Der Erpel deutete mit seinem Schnabel zu der weißen Ente mit den vier Küken. „Sie hat ein gutes Herz und sicherlich eine gute Idee.“
Und so schwamm das Entlein hinüber zu der weißen Ente mit ihren vier Jungen. Diese versteckten sich vorsichtig unter Mutters Flügeln, als sie die beiden herankommen sahen.
„Seid gegrüßt. Kann ich euch helfen?“ frage die Entenmutter die Ankömmlinge.
„Ich hoffe sehr.“ entgegnete der Erpel. „Mir ist gerade dieses Küken hier über den Weg gelaufen und soweit er mir erzählt hat, hat er seine Mutter verloren.“
„Oh je, welches Unglück.“ Und die Ente wandte sich sich an das schwarze Entenküken. „Erzähl mir doch einfach mal, was passiert ist, und dann schauen wir, was wir machen können.“
Und so erzählte ihr das Entlein über die Ereignisse, die am Tag zuvor passiert waren und wie er zu Fuß hierher gewatschelt war. Den Teil mit dem ‚Wolf‘ ließ er sicherheitshalber mal aus. Er befürchtete, seine Unterstützung schnell wieder los zu sein, würde er erzählen, dass da ein Wolf in seinem Körper steckte, der jeden Moment herauskommen könnte.
Von Zeit zu Zeit nickte die Ente und bat das Küken dann, seine Mutter so genau wie möglich zu beschreiben. Das Entlein erzählte ihr, dass sie schwarzes Gefieder hatte, eine weiße Mähne, hellgrüne Augen, eine beruhigende Stimme und all die anderen Details, die ihm so einfielen.
„Also ich bin ziemlich sicher, dass ich deine Mutter bislang nicht getroffen habe. Tut mir leid. Und ich war noch nie in der Gegend, wo die Berge so spitz sind, wie du sie beschreibst. Aber ich werde meine Augen offen halten. Momentan muss ich auf die Rückkehr meines Partners warten, denn wie du siehst, habe ich ja selbst Kinder zu behüten, und da kann ich nicht weg. Aber es sind immer ein paar andere Enten in der Gegend, die solltest du auch mal fragen. Ich muss dir aber mitteilen, dass der Weg, den du gekommen bis, ein Stück weiter unterbrochen ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wie du da weiterkommen willst, ohne gleiten zu können, wie ein Erwachsener. Ich kann dich jedenfalls nicht rübertragen. Tut mir leid.“
„Oh das muss ich mir wohl mal ansehen.“
„Natürlich. Wenn du mich brauchst, weißt du ja, wo ich zu finden bin.“
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Das Entlein verließ den Teich zwischen den Felsen und lief zurück zum Bergpfad. Und tatsächlich, nur einige Dutzend Meter weiter, unter einem riesigen Felsbogen, endete dieser Weg in einer steilen Abbruchkante.
„Entschuldigung, weißt du, was hier passiert ist?“ fragte das Küken eine andere Ente, die ebenfalls an der Kante herumlief.
„Ooch das … weißt du, das ist schon vor Jahren passiert. Es gab damals im Frühling heftigen, tagelangen Regen, und nach ein paar Tagen ist einfach ein großes Stück vom Berg abgerutscht. Die Enten da drüben…“ – er zeigte zurück in die Richtung des Felsenteiches – „Sie hatte verdammt Glück, dass sie nicht von Steinen erschlagen oder der Teich von einer Schicht Schlamm bedeckt wurde. Aber weißt du, was wirklich komisch ist? Seitdem habe ich nie wieder gesehen, dass ein Mensch versucht hat, diese Stelle zu überwinden. Ist das nicht seltsam – es gab bis vor vielen Jahren immer Menschen hier. Hat man mir zumindest erzählt. Aber dann, nach dem großen Feuer sind sie wohl entweder gestorben oder weggezogen. Genau weiß ich das auch nicht.“
„Das große Feuer?“
„Ja, so hat man es mir gesagt. Ist alles vor meiner Zeit passiert.“
„Kein Problem, danke trotzdem. Hast du eine Idee, wie ich auf die andere Seite kommen könnte?
„Hmm … mit Gleiten wäre es kein Problem. Aber in deinem Alter kannst du das wohl kaum.“
Das schwarze Entlein schätzte die Entfernung zur anderen Seite ein, wo der Weg etwas tiefer seinen Verlauf fortsetzte. Aber selbst, wenn es wieder in der Luft laufen könnte … der Abstand war einfach zu groß, um an eine sichere Überquerung zu denken. Es seufzte. Vermutlich hatte die Entenmutter am Teich doch recht. Natürlich erkundigte sich das Küken noch danach, ob die Ente vielleicht seine Mutter gesehen hatte, aber auch das wurde verneint.
Und so kehrte er zunächst zum Tümpel zwischen den Felsen zurück und berichtete der weißen Ente dort, was es in Erfahrung gebracht hatte. Diese antwortete:
„Ich habe währenddessen nachgedacht. Du könntest doch einfach bei meinen Kleinen hier im Teich bleiben, während mein Partner und ich bei unseren Ausflügen nach deiner Mutter Ausschau halten. Ich glaube nicht, dass meine Kinder etwas dagegen hätten, und einen Schnabel mehr werden wir auch noch satt bekommen. Denk mal drüber nach.“
Und das Entlein dachte eine Weile darüber nach. Natürlich würden Seele und Wölfin ihre Reise auch ohne ihn fortsetzen – vermutlich sogar schneller. Vermutlich wäre er hier auch in guten Händen – beziehungsweise Flügeln. Und doch … fühlte es sich irgendwie falsch an. Er spürte das Bedürfnis, diese Welt zu entdecken, Antworten zu finden, für die Wölfin, die Seele, für sich selbst. Wollte er da wirklich die nächsten Tage hier auf dem Teich warten, womöglich bis er flügge war?
Er wandte sich an die Entenmutter:
„Dieses Angebot ist wirklich sehr nett, und ich schätze deine Gesellschaft durchaus. Aber bitte verstehe, dass ich selbst gerne mit der Seele unsere Suche woanders fortsetzen möchte.“
“Das verstehe ich durchaus. Nun … es ist deine Entscheidung. Dann bleibt mir wohl nur, dir viel Glück zu wünschen.”
Und so verließ der Entenjunge den Teich auch schon wieder und lief zurück zum Bergpfad, um zunächst dort nach einer Lösung für sein Problem zu suchen. So leicht würde er nicht aufgeben. Er war jetzt immerhin ein Wolf. In gewisser Weise zumindest.
Er kam gerade an der Kante an, wo der Bach in Form eines Wasserfalls ins Tal stürzte, als er etwas sehr Seltsames bemerkte.
„Seele.“ piepte er leise.
„Ja, Kleiner?“ Der rote Ball surrte nahe zum Küken.
„Was bedeutet das?“
Die Seele folgte seinem Blick und begann zu vibrieren, sie lachte leise. Dort an der Abbruchkante lagen einige Steine. Und zwei davon schwebten ganz klar über dem Boden. Das Küken hätte keine Mühe, seinen Kopf darunterzulegen, würde es sich das trauen.
„Hmm … vielleicht sind diese Steine auch nur wieder ein Fehler in diesem Spiel. Etwas, das nicht so ist, wie es sein sollte.“
„Oder es ist einfach ein Wunder?“
„Ein Wunder der Götter? … Gut möglich. In meinem früheren Leben verehrten wir mehrere Göttter. Ich glaube, sie haben diese Welt erschaffen. Meine Eltern erzählten mir, dass nichts in dieser Welt aus purem Zufall so ist. Das soll aber nicht bedeuten, dass ich wüsste, warum diese Steine hier schweben…“
„Ich weiß!“ rief da das Entlein.
„Du weißt, warum sie schweben?!“ Die Seele konnte ihr Erstaunen nicht verbergen.
„Nein … na ja … vielleicht. Jedenfalls hatte ich gerade eine Idee, wie wir unsere Reise fortsetzen können. Und die beiden Steine haben in gewisser Weise dazu geholfen.“
„Na da bin ich aber gespannt. Was hast du dir einfallen lassen?“
„Als ich mir die Landschaft zwischen den Steinen angeschaut habe, habe ich dort unten auch so eine Ruine gesehen. Siehst du sie?“
„Ja, da ist eine Burgruine.“
„Dieses Gebäude ist nicht sehr weit weg, von da, wo ich gerade stehe, und es ist sehr weit unten. Ich könnte vermutlich dort hinfliegen. Und man sieht einen Hügel dahinter und einen Pfad nach oben, also denke ich, wir könnten von dort aus auch weiterkommen. Was meinst du?“
„Hmm… also soweit ich das sehe, hätte uns der Bergpfad, den wir zunächst nehmen wollten, auch zu dieser Ruine geführt. Es ist also fast schon eine Abkürzung. Nur…“
„Nur was?“
„Nun … gestern, als du vom Nest runtergepurzelt bist, da bist du zuerst einfach nur gefallen, und dann schien es, als wärst du in der Luft gelaufen. Falls du diesen Trick wiederholen kannst, dann solltest du es dort rüber schaffen. Anderenfalls geht es da unten wirklich tief runter. Und ich hätte dich – und den Wolf – lieber lebendig.“
„Oh, ich denke schon, dass ich das wieder tun kann.“
„Schon, aber kannst du es auch beweisen? Also ohne, da jetzt gleich runterzuspringen.“ fügte die Seele noch schnell hinzu.
Der Entenjunge schaute sich den Hang hinter sich an: „Ich werd‘s dir beweisen.“
Und schon watschelte er los, den Bergpfad wieder hinauf, zurück über den Baumstamm, vorbei an der Kehre wo sie Kalanis ‘Wall’qa’-Zeremonie beigewohnt hatten. Das dauerte natürlich eine Weile. Die Seele folgte ihm langsam nach. Dieses Mal wählte der Entenjunge eine der höheren Terrassen aus und hielt nach ein paar Dutzend Metern an.
„Ich werde von hier aus auf den Pfad da unten fliegen. Falls ich abstürze, weiß ich, dass es nicht funktionieren wird, aber wenn alles gut geht, werde ich mich abfangen, bevor ich den Boden erreiche.“
In diesem Moment spürte er wieder dieses Kribbeln wie am Abend zuvor, und tatsächlich stand gleich darauf die schwarze Wölfin an seiner Seite und sagte, zu ihm gewandt:
„Ich möchte wirklich ungern deine großen Ambitionen bezüglich des Fliegens bremsen. Ganz und gar nicht. Und doch, solltest du dich bei dem Versuch ernsthaft verletzen, möchte ich ungern in deinem Körper sein. Bitte nimm das nicht persönlich.“
Der Entenjunge seufzte, drehte sich in Richtung Abhang, konzentrierte sich, atmete tief ein und … sprang. Wie beim letzten Mal, fiel er nach seinem Hüpfer wie ein Stein zu Boden, auch wenn er noch so mit den kleinen Flügeln flatterte. Aber gerade, als die beiden Beobachter erwarteten, dass er auf die darunterliegende Terrasse aufschlagen würde, da schien es wieder, als landete er auf einer unsichtbaren Treppe, auf der er sicher hinab zum Bergpfad – eine weitere Terrasse tiefer – herabstieg.
Die Wölfin rannte zurück zur Spitzkehre und dann den Weg hinab, bis sie das Küken erreichte. Die Seele nahm die Abkürzung durch die Luft.
„Okay, Kleiner“, keuchte die Wölfin, noch etwas außer Atem: „Ich denke, ich kann deinen Fähigkeiten bezüglich des Laufens durch die Luft doch vertrauen. Ich bin bereit.“ Und damit wechselte sie erneut in den Körper des Entenjungens.
Dieser lief zur Sicherheit den Bergpfad etwas weiter, bis er einen Punkt gefunden hatte, der ihm für den langen Sprung am besten geeignet erschien – nahe zu der Ruine, aber weit über ihr.
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„Auf die Plätze, fertig, los!“ … piepte er, und schon war er in der Luft.
Tatsächlich funktionierte der ‚Flug‘ wie geplant, und der Entenjunge stieg aus der Luft hinab auf eine Terrasse direkt vor dem rechteckigen Burgturm. Die Ruine dieses Turms stand auf einer größeren offenen Fläche eines Felsplateaus, umgeben von dem tiefen, tiefen Graben, den er gerade überquert hatte.
„Ich hab‘s geschafft, ich hab‘s geschafft!“ piepte er voller Freude.
„Das war wirklich gut.“ hörte er die Stimme der Seele. Und du hast dir auch einen guten Landeplatz ausgesucht. Schau, gleich da drüben ist eine weitere Erinnerung.“
Tatsächlich bemerkte das Küken nun die rote Rauchfahne, die nur wenige Meter neben ihm in die Höhe stieg. Und es bemerkte, dass es nicht allein war. Eine Handvoll Wombats lebten dort, kleine Beuteltiere mit ähnlicher Statur und Größe wie Murmeltiere. Sie liefen in der Gegend herum, und gruben hier und da. Das Entlein näherte sich einem von ihnen.
„Hallo, ich bin ein Entenküken. Ich bin auf einer Reise. Und was bist du?“
„Ich bin ein Wombat.“ kam die Antwort. „Und ich bin nicht auf einer Reise.“
Das Entlein legte den Kopf schief. Dann begann es erneut:
„Ich bin auf der Suche nach meiner Mutter. Hast du sie vielleicht gesehen?“
„Ist deine Mutter ein Wombat?“
„Äh … nein. Sie ist natürlich eine Ente. Eine schwarze Ente mit hellgrünen Augen.“
„Dann habe ich sie nicht gesehen. Hier unten gibt es nur Wombats.“
„Und … hast du vielleicht einen Tipp, in welche Richtung ich gehen sollte, um sie zu finden?“
„Aufwärts.“ antwortete der Wombat. „Von hier aus geht es nur aufwärts. Ganz einfach.“
„Aha… Weißt du, ich bin gerade erst hier runterge … äh … runtergeflogen. Ich übe das Fliegen aber noch. Ein Freund von mir hat gesagt, jeder hat seine besonderen Fähigkeiten. Was ist deine besondere Fähigkeit?“
Der Wombat überlegte kurz, ehe er antwortete.
„Mampfen, vermute ich.“ Und nach einer kurzen Pause: „Mampfen und Rollen. Ich liebe Rollen. Wenn wir hier unten etwas Spaß wollen, wandern meine Freunde und ich auf einen Hügel in der Nähe und rollen herunter. Ich glaube, deswegen landen alle Wombats früher oder später hier unten.“
Die Seele unterbrach ihr Gespräch.
„Entschuldigung, wir sind eigentlich gerade auf einer Reise und müssen noch viele Dinge herausfinden und lernen. Wir sollten uns der Erinnerung dort drüben zuwenden. Vielleicht bekommen wir so weitere Antworten.“
Der Wombat seufzte.
„Das könnt ihr auch ohne mich, oder? Ich habe diese Erinnerung bereits zu oft gesehen. Jedes Mal wenn irgendein Neuankömmling hier ankommt, und meint, er müsste das rote Ding da anbellen oder ankreischen, geht es wieder los. Ich habe die Nase voll davon. Wenn ihr mich also entschuldigen würdet. Ich muss noch was zu Fressen finden.“
Und damit drehte sich der Wombat um und verschwand im hohen Gras.
Entlein und Seele hingegen liefen zum Eingang des verfallenen Turms, vor dessen früherer Eingangstür das ‚Feuer‘ brannte. Wieder piepte das Küken und wieder erschienen rote Gestalten. Die Seele erklärte, sie sähen eine Szene, in der bewaffnete Männer Nahrung und Güter der Bewohner dieses Turms davontrugen. Die Bewohner wirkten angesichts dieses zu entrichtenden ‚Tributs‘ in echter Verzweiflung. Die Vorratsregale im Inneren des Gebäudes waren nahezu leer.
Es machte das Entlein traurig, diese Szene mitanzusehen.
„Ich schätzte, ich weiß jetzt, warum der Wombat diese Erinnerung über hat.“
„Ja genau.“ stimmte die Seele zu. „Er hätte vermutlich eine bessere Einstellung, wenn er an einem glücklicheren Ort leben würde. Ich denke, wir sollten auch weiterziehen. Was meinst du?“
Über mehrere Treppen fanden Entlein und Seele einen Weg auf den Gipfel dieses Berges. Dort entdeckten sie nicht nur eine Gruppe rot-weißer Pilze, sondern auch zwei Enten. Als das Küken seine übliche Frage nach seiner Mutter stellte, meinten sie, sie hätten nicht von einer Entenmutter gehört, die ein Junges vermisste. Aber sie gaben ihm einen Tipp: Sie hatten eine größere Ansammlung Enten unterhalb einer größeren Burg in einiger Entfernung gesehen. Er solle doch dort seine Frage stellen.
Die Seele und das Entlein setzten die Erkundung der Umgebung weiter fort. Von einer Bergspitze flogen Sie zum Fuß des nächstgelegenen Hügels, und suchten dort den Weg nach oben. Fast immer entdeckte das Küken ein paar Pilze zwischen den Ruinen, die dort oben standen. Und jedes Mal bemerkte es stolz zur Seele:
„Schau, ich habe euch einen Pilz gefunden!“
Und die Seele verkniff sich, dem Entlein zu sagen, dass sie die Pilze von ihrem Blickwinkel aus der Luft schon lange zuvor entdeckt hatte. Warum sollte sie ihm nicht seine Freude lassen…
Kapitel 4 – Der Plan
Und so arbeiteten sie sich durch die Landschaft, bis sie einen Berg erreichten, der größer war, als die zuvor und auf dem früher mindestens ein halbes Dutzend an Gebäuden gestanden haben mussten. Der Pfad hinauf begann mit einer breiten Treppe, aber wurde mehr und mehr zu einem verwilderten Pfad. Das Küken war recht erschöpft, als sie endlich ein größeres Plateau nahe der Bergspitze erreichten. Nachdem es wieder zu Atem gefunden hatte, schaute es sich um. Auf der linken Seite befand sich an der Bergflanke eine große, unüberwindbare Mauer. Vor ihnen blockierte eine Mauer den Pfad. Sie war teilweise eingefallen. Aber auch rechts am Abhang standen hohe Gebäuderuinen.
„Ich schaue mal, ob ich einen Weg darum herum finde.“ sagte die Seele. „Du kannst ja in der Zwischenzeit diese seltsamen Tiere da hinten befragen. Vielleicht können Sie dir behilflich sein.“
Das Licht der glühenden Kugel schien auf Gesicht und Rücken einer Kreatur, die das Küken nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Das Tier hatte einen flachen Körper, eine recht spitz zulaufende Schnauze, lange Grabkrallen an seinen vier Beinen und – auch bemerkenswert – einen festen, mehrteiligen Panzer auf dem Rücken, der ihm von der Nase bis zum Po reichte. Insgesamt wirkte es wie eine Kreuzung aus Maulwurf und Gürteltier. Aber es war rosa!
Während die Seele um eine Mauerecke verschwand, näherte sich das Küken vorsichtig diesem Geschöpf.
„Hallo. Entschuldige, wenn ich frage, aber was für ein Tier bis du?“
„Oh, hallo, ich bin ein Gürtelmull. Und du, … du siehst aus wie eines der Küken von den Enten, die hier von Zeit zu Zeit drüberwegfliegen. Aber ich habe ihren Nachwuchs noch nie hier gesehen.“
„Schön dich kennenzulernen. Genau, ich bin ein Entenküken. Und auch ich wäre wohl nicht hier, hätte ich nicht meine Mutter verloren.“
„Und du glaubst, sie hier oben zu finden?“
„Ich weiß nicht, aber ein paar andere Enten haben erzählt, es gäbe eine Menge Enten bei der Burg auf dem Hügel gegenüber.“ Und er zeigte mit seinem Schnabel in die Richtung, wo die Mauer ihm den weiteren Weg versperrte. „Weißt du, wie man auf die andere Seite kommt?“
„Och, also ich bin öfters da drüben. Für mich ist das einfach. Ich kann mich unter der Mauer durchgraben, habe ja zum Glück kräftige Grabehände. Ich schätze mal, du kannst nicht graben?“
Das Küken schaute seine kurzen Flügelstummel an und schüttelte den Kopf.
“Ich glaube nicht, dass das damit geht.” Dann dachte es eine Weile nach. „Vielleicht kannst du mir ja einen Tunnel graben, und ich folge dir da durch?“
„Nun, das Tunnel graben wäre nicht das Problem, aber das Folgen. Weißt du, wenn ich vorn grabe, dann schaufle ich die Erde immer nach hinten, also wird der Tunnel hinter mir fast wieder zugeschüttet. Außerdem sind meine Tunnel echt eng. Du solltest dir einen Wombat oder sowas besorgen. Der könnte dir einen Tunnel graben, durch den du durchlaufen kannst. Aber … schau doch mal, die Wand ist an der einen Stelle ziemlich eingestürzt. Bist du stark genug, über das niedrige Stück hinwegzufliegen?“
Das Küken lief zu dem teilweise eingefallenen Stück der Wand und versuchte, mit Flügelschlagen darüber hinwegzuhüpfen. Aber seine kleinen Flügel konnten es nicht hoch genug bringen. Nach einigen Versuchen setzte es sich erschöpft auf den Boden.
In diesem Moment kam die Seele zurückgeflogen:
„Na, Fortschritte gemacht?“
„Leider nein“, piepte das Küken. „Ich komme weder über die Mauer noch darunter hindurch.“
„Nun, aber möglicherweise können wir um sie herum gehen. Ich glaube, ich habe einen Weg in ein verlassenes Haus gefunden, von dem aus wir weiterkommen könnten.“
„Oh, vielen Dank.“
Und das Entlein verabschiedet sich von dem Gürtelmull: „Wir sehen uns auf der anderen Seite!“
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Die Seele leitete das Entenküken zur rechten Seite des Plateaus, und dort zu einer Stelle, wo sich am Abhang keine Mauer befand.
„Du wirst sicher nicht in der Lage sein, einfach um die Mauer herumzusegeln wie eine erwachsene Ente das könnte. Aber schau, unter uns gibt es auch noch eine Terrasse. Sie führt zu einer Ruine, die sich direkt neben dem Weg befindet, den wir dann nehmen müssen. Was meinst du?“
„Na dann los!“ und rasch hüpfte das Entenjunge hinunter auf die niedrigere grüne Terrasse und lief diese am Berg entlang. Als es nach einigen Metern um die Ecke bog, sah es das verlassene Gebäude, von dem die Seele erzählt hatte. Mit einem glücklichen Quaken rannte es in Richtung der Türöffnung, die sich auf der ihm zugewandten Seite befand … und schrie vor Schmerz auf, noch bevor es überhaupt das Gebäude betreten hatte.
„Autsch!“
„Was ist los?“ fragte die Seele.
„Oh mein Kopf … aua … Ich … ich bin gegen irgendetwas gestoßen. Da muss irgendwas sein, das ich nicht sehen kann. Was auch immer es ist, es hat mir fast meinen Schnabel gebrochen!“
„Oh nein, das ist vermutlich eine dieser unsichtbaren Wände. Die Wölfin hatte schon ein paar von diesen kennengelernt, bevor wir dich trafen. So eine hat sicher auch den Kolibri daran gehindert, den Wasserfall zu durchqueren. Aber dass hier eine ist, hätte ich nicht erwartet. Weißt du, als Seele ohne richtigen Körper merke ich diese Art Wände nicht. Ich kann sie nicht sehen, nicht fühlen, also weiß ich auch nicht, wo sie sind. Hmm … kannst du vielleicht ein Schlupfloch darin finden?“
„Ich versuch‘s.“
Das Entenküken rappelte sich wieder auf und näherte sich langsam, ganz vorsichtig wieder der Türöffnung. Ja, da war tatsächlich eine unsichtbare Barriere. Zuerst versuchte es, darüber hinwegzuhüpfen, aber ohne Erfolg. Dann lief es nach links, mit dem rechten Flügel immer an der Wand. Als es den Fels zur Linken erreichte, drehte es um und versuchte es in die Gegenrichtung. Aber ach … bald stand es vor dem Abgrund, der diesen Berg von dem benachbarten trennte. Dort konnte es einige Enten ausmachen. Es schätzte die Entfernung dort hinüber ein, aber da die potentielle Landefläche nur unwesentlich niedriger lag, war schnell klar, dass ein Gleitflug dort hinüber nur einer erwachsenen Ente möglich wäre. Es gab zur Linken auch einen Felsbogen, der auf das Plateau mit den Enten führte, aber auch auf diesen konnte das Entlein von hier aus unmöglich gelangen. Es seufzte und wandte sich der Seele zu:
„Das scheint auch eine Sackgasse zu sein, es sei denn, du hast noch eine gute Idee?“
In diesem Moment fühlte das Küken wieder ein Prickeln im ganzen Körper, und die Wölfin tauchte zu seiner Rechten auf:
„Wirklich jammerschade. Aber vielleicht gibt es einen ganz anderen Weg dort hinüber?“
Von ihrem Ausblick aus betrachtete sie sich die umgebende Landschaft genauer.
„Ich sehe da drüben einen weiteren Berg, rechts von dem mit den Enten, wo wir hinwollen. Zu diesem Berg gibt es eine natürliche Brücke hinüber. Da sind auch Ruinen weit oben. Wenn wir dort hoch gelängen, könntest du vermutlich auf den benachbarten Berg hinunterspringen. Seele, bitte sei so nett und schaue dich dort mal um. Wir warten derweil hier und sammeln unsere Kräfte für den langen Weg dort hinauf. Okay?“
„Klar, kein Problem.“ antwortete die Seele, und mit einem leichten Surren entfernte sich der rote Ball in Richtung des anderen Berges. Nach wenigen Minuten kam er zurück.
„Küken, Wolf.“
„Ja?“
„Ich denke, es ergibt keinen Sinn, dass sich das Küken überhaupt dorthin auf den Weg macht. Ja, es gibt einen breiten Pfad hinüber zu dem Berg, aber es gibt anscheinend keinen hinauf. Und von den unteren Terrassen hat er nicht den Hauch einer Chance, den benachbarten Hügel zu erreichen. Das ist nicht anders als hier. Verschwendet nicht eure Zeit da drüben.“
Das Küken seufzte erneut: „Noch eine Sackgasse. Wie soll ich nur weiterkommen, wenn diese Landschaft mir keine Möglichkeit dazu gibt?“
„Vielleicht sollst du gar nicht weiterkommen.“ warf die Seele ein. „Ich sollte ja auch eigentlich nicht deine Mutter verscheuchen… Vielleicht ist es das Beste, du kehrst zum Nest zurück und schaust nach, ob deine Mutter inzwischen dorthin heimgekehrt ist.“
„Aber …“ Das Küken war den Tränen nahe.
In diesem Moment unterbrach die Wölfin mit fester Stimme:
„Nein, Seele. Du müsstest eigentlich genauso gut wie ich wissen, dass das Küken von hier aus gar nicht wieder zu seinem Nest zurückkommen kann. Er hat keine Möglichkeit, wieder auf den Bergpfad hinaufzukommen. Für dich ist das ein Klacks, aber er kann nicht einfach wieder hinaufhüpfen… Außerdem sind wir ein Team, und ich bin nicht bereit, jetzt schon aufzugeben.“
Und damit wandte sie sich dem Küken zu.
„Während die Seele drüben auf dem Berg nach einem Weg gesucht hat, habe ich nachgedacht. Mir ist eine ziemlich verrückte Idee gekommen, wie wir dir vielleicht helfen können. Aber zuerst benötige ich deine Hilfe.“
„Du … du benötigst meine Hilfe?“
„Genau. Weißt du, wir müssen zuerst von dieser Terrasse hier wieder auf die Wiese da unten hinunterkommen. Und im Gegensatz zu dir kann ich leider überhaupt nicht fliegen. Also wenn du mich bitte dort runter und zu der Treppe fliegen könntest …“
Sie deutete mit ihrer Schnauze zu der breiten Treppe, die sie zuvor bereits hinaufgestiegen waren, um auf den Berg mit der im Weg stehenden Mauer zu gelangen. Dann wechselte die Wölfin wieder in den Körper des Entchens. Dieses sprang von der Felskante herab und landete auf der ausgedehnten Wiese darunter. Kurz darauf war es zu der Treppe gelaufen. Hier zeigte sich die Wölfin erneut.
„Pass auf, Kleiner. Ich … nein, wir brauchen jetzt dein ganzes Vertrauen. Ich fürchte wir können dich im Moment von hier aus nicht weiterbringen, also müssen wir uns wohl erst einmal trennen. Die Seele und ich werden dem Pfad folgen und schauen, wohin er uns führt. Vielleicht kann ich vom weiteren Wegverlauf eine Möglichkeit entdecken, zu dir zurückzukommen und dich nachzuholen. Ich kann nicht versprechen, dass ich einen Weg finde, aber ich verspreche, dass ich dich auf jeden Fall benachrichtige, wenn es eine Möglichkeit gibt. Wenn mich mein Verständnis dieser Welt nicht ganz täuscht, haben wir noch eine Chance.“
„Welche Chance?“
„Möchte ich dir jetzt noch nicht erzählen. Das sind ungelegte Eier, sprichwörtlich meine ich.“
„Und was soll ich jetzt tun?“
„Deine Aufgabe ist recht einfach: Du wartest einfach hier, bis die Zeit reif ist oder bis ich weiß, dass meine Idee nicht funktionieren wird. In beiden Fällen werde ich dir eine Ente oder einen anderen Vogel vorbeischicken, um dir Bescheid zu geben. Bitte sei so nett und bleib hier in der Nähe, so muss ich dich später nicht erst suchen. Vielleicht setzt du dich einfach auf diese Mauer hier, dann sieht man dich gut.“
Das Küken versuchte, auf die niedrige Steinmauer zu hüpfen, aber wieder fehlten einige Zentimeter. Die Seele seufzte. Aber das Entlein hatte eine Idee: Es lief die Treppe ein Stück hinauf, wo die Mauer etwas niedriger war, sprang hinauf und lief zurück zum Wolf.
„Siehst du, es geht fast alles, wenn man nur will. Ich glaube, dein Plan wird funktionieren.“
„Wir tun unser Bestmögliches, Kleiner. Also bis in ein paar Stunden dann. Vielleicht erholst du dich nochmal. Bis bald.“
Und damit drehte sich der Wolf um und begann, in Begleitung der Seele die Treppe zum Berg hinaufzusteigen.
„Bis bald“ rief ihnen das Entlein nach.
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Im Körper eines Gürtelmulls konnte sich die Wölfin unter der im Weg stehenden Mauer hindurchgraben. Sie passierte das Haus, das in ihrem früheren Leben als Mensch ihr Zuhause gewesen war. Dann übernahm sie kurzzeitig einen Wombat, überquerte mit diesem rollend den Felsbogen zur anderen Seite des Tals und erreichte dort die Enten, die das Küken zuvor bereits gesichtet hatte. Und – ganz aus Gewohnheit – fragte sie diese natürlich, ob eine von ihnen eventuell ein Entenküken vermisste. Aber das verneinten sie.
Wölfin und Seele setzten daraufhin ihren Weg in Richtung einer großen, auf mehreren Ebene erbauten Burg fort. Sie sah aus der Ferne noch immer ziemlich eindrucksvoll aus, auch wenn sie wie die anderen zuvor verlassen und verfallen war. Aber die Stützwände der Terrassen waren zum Großteil noch intakt. Zwischen Ihnen betrat die Wölfin eine größere ebene Fläche, die früher wohl so etwas wie ein Vorhof gewesen sein mochte. Sie aktivierte dort die ein oder andere Erinnerung an ihre Vergangenheit. Aber immer wieder jedoch glitt ihr Blick zurück zum gegenüberliegenden Hang und zu dem Hügel, von dem sie wusste, dass dort ein Entenküken auf sie wartete und hoffte.
Mit der Zeit formte sich ein konkreter Plan in ihrem Kopf. Sie drehte um, überquerte die untere Terrasse und verließ die Burg wieder in Richtung einer Gruppe von Enten, die nahe eines hohen Wasserfalls auf einer Wiese versammelt saßen. Aus einiger Entfernung sprach sie die Gruppe an:
„Ich könnte Hilfe von einem von euch gebrauchen, idealerweise jemandem, der keine Höhenangst hat.“
Die Enten quakten aufgeregt durcheinander, aber eine schwarze antwortete:
„Falls es hier auf dieser Wiese überhaupt jemand gibt, der Höhenangst hat, dann dürftest du das sein. Wir sind schließlich Enten.“
„Okay, du hast dich schon qualifiziert.“ sagte die Wölfin, und ohne noch die Antwort abzuwarten, übernahm sie den Körper der Ente. So flog sie erneut über den Burghof und watschelte von dort zur nächst höheren Terrasse hinauf. Erst hier stellte sie fest, dass sie erneut die Hilfe eines Gürtelmulls benötigen würde, um weiter nach oben zu gelangen. Denn es gab keinen anderen Ausweg aus diesem Ort als eine brüchige Mauer, vor der einige Exemplare dieser Art herumliefen.
So verließ die Wölfin den Körper der Ente, und wandte sich gleich im Anschluss an diese:
„Du bleibst hier! Deine eigentliche Aufgabe hat noch nicht einmal begonnen.“
„Und was … wenn nicht?“ quakte die Ente.
„Dann wird ein kleines schwarzes Entenküken, nicht weit von hier, sehr traurig sein. Verstanden?!“
Die Ente verstand nur Bahnhof, aber bis sie ihre Gedanken sortiert hatte, hatte die Wölfin bereits einen Gürtelmull dazu gebracht, die Mauer vor ihnen zum Einsturz zu bringen. Daraufhin übernahm sie wieder die Ente.
Der Weg führte Wölfin und Seele einige Treppen hinauf zur nächst höheren Terrasse. Auch wenn diese auf den ersten Blick wieder wie eine Sackgasse wirkte, so konnte die Ente von dort aus doch zur benachbarten Terrasse hinübergleiten, von wo aus eine lange Steintreppe bis auf die Spitze der Burg führte. Ein kleiner Wachturm neben der Treppe war genau das, wonach die Wölfin gesucht hatte. Als Ente stapfte sie die Treppe hinauf und schaute oben durch die Öffnungen in Richtung des Gebiets von Kalanis Haus. Dann breitete die Ente die Flügel aus und setzte zu einem langen Gleitflug zurück über das Tal an. Die Seele folgte, ohne zu fragen. Sie flogen in Richtung des Steinbogens, den die Wölfin zuvor im Körper des Wombats hinabgerollt war. Mit Genugtuung stellte Kalani fest, dass die Landschaft nun irgendwie anders aussah … irgendwie … detailärmer.
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Der Steinbogen war nur ein paar Flügelschläge entfernt von dem, was die Ente nun ansteuerte – die Wiese, auf der die Wölfin und die Seele das Entlein zurückgelassen hatten.
Und tatsächlich, dort unten saß das Küken auf der blanken Erde und zitterte. Die Ente setzte zur Landung an und ließ sich neben dem Küken nieder.
„Gut dich wiederzusehen.“ sagte sie.
Das Küken blickte erstaunt auf.
„Was … wer … wer bist du? Hat dich der Wolf gesendet?“ Dann fiel sein Blick auf die rote Kugel, die neben der Ente schwebte. „Der Wolf hat dich gesendet, nicht wahr?“
„Genaugenommen bin ich es selbst. Ich brauchte nur die Ente, um zurück zu dir zu kommen.“
Und gleich darauf verließ die Wölfin den Körper der Ente, die es daraufhin sehr eilig hatte, zu ihrem Schwarm zurückzukehren, weit weit weg von diesem verrückten schwarzen Wolf. Als die Wölfin die Ente davonfliegen sah, wandte sie sich wieder dem Küken zu:
„Wie geht es dir? Du wirkst verängstigt.“
„Oh ein Glück, du bist du es, Wolf. Ich hatte solch große Angst. Weißt du, einige Zeit, nachdem ihr von hier fortgegangen seid, ist hier …“ Das Küken suchte nach Worten. „… ist hier die Landschaft kaputtgegangen. Das Gras ist verschwunden und die Steinmauer, auf der ich gesessen hatte. Ich bin fast in eine komische Spalte im Boden gefallen – wer weiß wohin ich gefallen wäre. Ist das das Ende der Welt, Wolf?“
„Du kannst dich beruhigen.“ sagte die Wölfin sanft. „Aber im Grunde hast da gar nicht mal so Unrecht. Wir befinden uns nun am Ende der Welt, aber räumlich gesehen, nicht zeitlich. Die gute Nachricht ist aber: Ich bin nun überzeugt, ich kann dich zu dem Ort bringen, wo die Seele und ich bereits gewesen sind. Und ich glaube, dort wird wieder alles normal aussehen.“
„Danke.“ sagte das Küken, noch immer etwas aufgeregt.
„Ich werde dich wieder übernehmen und dir den Weg weisen, wenn es soweit ist. Zunächst müssen wir leider zum dritten Mal diesen Berg hinauf zu den Ruinen.“
Als das Entenküken erneut die Treppe hinaufstieg – oder das, was davon noch übrig war, bemerkte die Seele:
„Wir können uns glücklich schätzen, eine so aufrichtige und schlaue Freundin wie Kalani zu haben. Ihre Erfahrung und deine Hingabe … wie könnten wir jemals scheitern mit unserer Mission?“
„Ganz im Gegenteil, Seele. Nach der letzten halben Stunde befürchte ich, es gibt in dieser Welt etliches, was schiefgehen könnte. Ich lerne ständig neue Aspekte dieser Welt kennen, und einige davon – wie das, was hier gerade passiert ist – machen mir echt Sorgen. Ich habe das Gefühl, irgend jemand spielt ein Spiel mit uns.“
„Ich weiß, was du meinst.“ antwortete der leuchtende Ball. „Ich fühle manchmal genauso. Aber wenn wir Glück haben und vorsichtig sind … dann können wir manche dieser … ähem … Seltsamkeiten für unsere Zwecke ausnutzen. Und wer weiß das besser als du, der festgestellt hat, dass er durch die Luft laufen kann.“
Die zwei hatten inzwischen das Plateau nahe der Bergspitze erreicht, und hier stieß das Küken ein erstauntes Quaken aus. Die Mauer, die zuvor sein Weiterkommen unmöglich gemacht hatte … sie war verschwunden. Im Grunde war auch hier oben so einiges an Details verschwunden – Teile der Vegetation, Steine, manche Mauern. Nur die Gürtelmulle grüßten beim Vorbeigehen und gruben noch unbeeindruckt im Boden – ihr Futter, große Rüben, war noch vorhanden. Das Küken grüßte zurück und lief weiter zu der Gebäuderuine mit der großen roten Rauchsäule davor. In diesem Moment tauchte die Wölfin wieder auf und zwinkerte dem Küken zu:
„Na, hat doch geklappt, bisher. Nun sei so nett und aktiviere die Erinnerung. Ich habe sie bereits vorhin angeschaut und möchte dir dazu gern persönlich etwas erklären.“
Und während sich die Bilder der Erinnerung vor dem faszinierten Entenküken aufbauten, erzählte ihm die Wölfin, dass dies ihre frühere Bleibe gewesen war, damals, als sie Kalani, diese Menschenfrau vom Stamm der Yanrana gewesen war. Sie und ihre Freundin Wayla hatten dort gewohnt. Aber nun, in der Erinnerung, lag diese Freundin krank auf der Liege im Haus.
„Sie war oft krank.“ erinnerte sich die Wölfin. „Natürlich lag das an dem Mangel an gutem Essen und der harten Feldarbeit. Das meiste, was wir erwirtschafteten, wurde uns als Tribut wieder abgenommen. Ich sah damals keinen Ausweg, als die Dinge zu ändern, indem wir Bauern uns auflehnten. Wayla mochte die Idee einer Revolte gar nicht. Ihre Ansicht war es, ich solle die Unterdrücker lehren. Ich habe mich seither oft gefragt, was geschehen wäre, hätte ich damals auf sie gehört. Hätte sie die Situation verbessern können? Wären wir am Ende beide an Hunger oder Krankheiten gestorben? Ich habe damals keine Alternative gesehen.“
„Ich verstehe, was du meinst.“ kommentierte das Entlein traurig.
„Und das war erst der Anfang. So langsam kommen die Erinnerungen zurück. Aber lass uns erstmal nicht länger in der Vergangenheit kramen. Wir haben auch im Hier und Jetzt noch eine Hürde zu nehmen. Komm, Kleiner, ich denke der Durchbruch ist nahe.“
Die Seele klinkte sich in das Gespräch ein: „Ich habe einen Weg gesehen. Ich weiß, wie ihr zur anderen Seite kommen könnt. Folgt mir einfach.“
Der Wolf wechselte in den Körper des Entleins, und dieses watschelte nun wieder dem schwebenden roten Ball hinterher, der es zu einer niedriger gelegenen Terrasse hinabführte, die recht kahl aussah, wenn man von einer Handvoll Wombats und genauso vielen Tomaten auf dem Boden einmal absah.
Einer der Wombats stupste seinen Kumpel an:
„Sag mal, täusche ich mich oder ist dieses rote helle Dings nicht schon vorhin hier vorbeigeflogen?“
„Nachdem was danach hier passiert ist, könnte man denken, es ist ein schlechtes Omen.“
„Na zum Glück sind zumindest die Tomaten noch da.“
Die Seele schwebte näher:
„Hey, ich binkein schlechtes Omen. Ganz im Gegenteil: Ich versuche gerade, einem Wolf und seinem kleinen Freund hier zu helfen.“
„Oh“, antwortete der zweite Wombat. „Bitte entschuldige meine Unwissenheit. Äh, braucht ihr wieder einen von uns? Ich liebe es echt, diesen Weg über den Steinbogen hinabzurollen. Ihr hättet das verdutzte Gesicht der Ente da unten sehen sollen, als ich dort angerollt kam …“
„Freut mich, dass es dir wenigstens gefallen hat. Aber dieses Mal müssen wir eine andere Route nehmen. Komm, Ente.“ und die Seele schwebte nun über einer Stelle, wo bei der ersten Passage mit dem Wolf noch Steine den Durchgang versperrt hatten. Aber die waren nun auch verschwunden, so dass das Küken ungehindert auf eine Terrasse gelangen konnte, die sich von dort den gesamten Hang entlangzog, wie auch die Terrassen über und unter ihr. Von dieser Terrasse aus hatte das Küken einen guten Blick auf die riesige Burg auf dem gegenüberliegenden Hang.
„Muss ich dort rüber?“ fragte es die Seele.
„Genau, dort unten waren der Wolf und ich vorhin, während du gewartet hast. Ich denke, wir müssen dort unsere Suche fortführen. Du musst einfach nur rüberfliegen … springen – so, wie du es bisher auch gemacht hast. Wie du siehst gibt es da drüben verschiedene Terrassen und auch von den untersten kommt man noch hoch zur Burg. Also kein Problem.“
Der Entenjunge schaute noch einmal prüfend hinab in das Tal und stellte zufrieden fest, dass sie ziemlich weit oben standen.
„Sollte klappen.“ Und schon war er in der Luft.
Die Seele folgte ihm nach und beobachtete, wie das Entenküken wieder auf einer unsichtbaren Treppe hinabzusteigen schien, bis es auf diese Weise mitten im unteren Burghof anlangte.
„Ich hab‘s geschafft!“ tschilpte es vor Freude und tanzte im Kreis.
„Wir haben es geschafft.“ korrigierte die Seele. „Es war immerhin die Idee vom Wolf gewesen, dank der du am Ende noch hier rüber gekommen bist.“
„Stimmt, wir haben es geschafft.“
Kapitel 5 – Familie
Die Seele begleitete das Küken entlang der hohen Stützwälle bis zu einer Rampe, die auf eine höhere Terrasse führte. Unterwegs kommentierte sie die Erinnerungen die die beiden sahen. Es waren Erinnerungen an schwere Zeiten für die Dorfbewohner, in denen sie unter Missernten und Seuchen litten – am meisten aber unter der Willkür ihres Herrschers. Entlein und Seele wurden Zeuge davon, wie die Unzufriedenheit in offene Wut und Rebellion umschlug. Und zum Erstaunen des Entleins war es Kalani, die die Anführerrolle der aufgebrachten Menge übernahm.
Vorbei an den Gürtelmullen und der Wand, die sie zum Einsturz gebracht hatten, betraten Seele und Entenküken den dahinterliegenden Tunnel und schauten sich nach allem um, was sie finden und entdecken konnten. Erst dann erklommen sie die Treppe zur nächst höheren Terrasse und standen inmitten der Reste vermutlicher früherer Felder. Felder, auf denen die Bauern geschuftet hatten, nur um nach der Ernte den Großteil des Ertrages an die Männer des Königs zu verlieren. Heute zeugten nur noch die Reste der Windschutzmauern von dieser früheren Nutzung.
Das Entlein stutzte: So groß, wie die Terrasse zuerst wirkte, so schien sie nun doch eine Sackgasse zu sein. An ihrem Ende jedoch erspähten Seele und Küken ein paar Wombats, von denen sie vermuteten, sie würden schon einen Weg wissen. Und genauso war es.
„Für einen Wombat gibt es keine Sackgasse, so lange er graben kann.“ erklärte einer von ihnen. „Mit Graben kommt man fast überall hin. Ich liebe es zu graben. Folgt einfach dem Tunnel dort und er bringt euch auf die andere Seite.“ Und damit nickte er mit dem Kopf in Richtung eines Lochs in der Mauer, dass das Küken bisher übersehen hatte. „Aber erzähl mir bitte vorher noch, was dich hierher bringt. Ich habe seit Ewigkeiten kein Entenküken hier oben gesehen. Möchtest du etwa in den Wasserbecken baden?“
„Wasserbecken? Das hört sich gut an. Ich war den ganzen Tag in der Sonne und bin weit gelaufen. Ich würde mich gern im Wasser erfrischen. Aber da du gefragt hast: Eigentlich bin ich auf einer Reise mit dieser roten Kugel da über mir. Sie ist eine Seele. Oh, und außerdem suche ich meiner Mutter. Du hast nicht kürzlich von einer schwarzen Entenmutter gehört, die ein Küken vermisst?“
„Nein, aber viel Glück auf der Suche. Vermutlich wirst du aber woanders suchen müssen. Ich habe in letzter zeit überhaupt keine Enten hier oben gesehen … nur vorhin ist mal eine schwarze über dem Tal gekreist und dann in den Canyon da hinten geflogen.“ Er nickte vage in die Richtung, aus der das Entlein gerade kam.
„Danke trotzdem. Falls mal eine schwarze Entenmutter hier nach mir fragt, sag ihr, es geht mir gut. Vielleicht sieht sie mich ja noch hier in der Nähe.“
„Gern doch. Und wenn du meine Familie in der Höhle triffst, sag ihnen, ich komme gleich, ich suche nur noch nach ein paar Beeren für sie.“
“Na klar!”
Und schon watschelte das Küken in Richtung Höhle. Als es jedoch den Eingang erreichte, sprach die Seele:
„Bitte entschuldige, aber ich bevorzuge den kurzen Weg außen herum. Ich bin schlicht kein Freund enger Tunnel. Ich brauche Platz zum Schweben. Und außerdem ängstige ich da drin höchstens noch die Wombats zu Tode. Ich schaue nach dem Ausgang und warte dort auf dich.“
„Nur zu, bis gleich.“ antwortete das Entlein und betrat den Tunnel.
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Nach einer Weile in engen Gängen erreichte es einige unterirdische Räume der Menschen und fand in einem davon auch die Wombatfamilie. Es überbrachte die Grüße des Partners und erhielt im Gegenzug eine Beschreibung für den Weg nach draußen. Und tatsächlich: Weiter hinten in einem Korridor verrieten einfallende Lichtstrahlen eine Treppe nach draußen. Das grelle Tageslicht blendete das Küken und es blinzelte, als es wieder ins Tageslicht trat. Die Seele wartete dort schon.
Die beiden untersuchten die Terrasse nach Pilzen und stiegen dann eine lange Treppe hinauf. Auf der Terrasse dort oben erspähte das Küken die vom Wombat erwähnten Regenwassersammelbecken und konnte nicht widerstehen, in einem davon ein Bad zu nehmen.
„Darauf habe ich mich den ganzen Tag gefreut!“ jauchzte es, während es im Wasser herumplantschte. „Ich wünschte, meine Familie wäre auch da. Wir hätten sicher viel Spaß.“
Als es dies sagte, merkte es, dass sich die Wölfin von ihm getrennt hatte. Sie stand plötzlich neben ihm im Becken und sagte:
„Nun, Kleiner … vielleicht kann zumindest ich dir etwas Gesellschaft leisten. Und ich könnte auch eine Erfrischung gebrauchen.“ Und mit der Schnauze spritzte sie etwas Wasser zu dem Entlein, das vor Vergnügen piepte und die Dusche gleich erwiderte.
Aus der Luft beobachtete die Seele das ausgelassene Treiben und verlor sich in ihren Gedanken: ‚Hatte ich damals auch eine Familie … ?‘
Nach einiger Zeit verließen Entlein und Wolf das Wasser, trockneten Federn und Fell und inspizierten die rote Rauchsäule gleich nebenan, die eine weitere Erinnerung versprach. Es war die Erinnerung an eine Konfrontation, bei der der Aufstand der Dorfbewohner offensichtlich wurde. Kalani war ihre Wortführerin. Ausgerechnet Atevo, Kalanis Vater und Anführer der Sinchi-Wache, schlug diese erste Aufruhr blutig nieder. Seine kampferprobten Männer drängten die Bauern zurück und setzten die Häuser der Rebellen in Brand.
Das kleine Küken sah dem mit blanken Entsetzen zu. Kaum konnte es hinterher seine Stimme wiederfinden. Auch der Wolf winselte bei dem Anblick.
„Und Wayla? Hat sie …?“ fragte die Seele, die vermutete, dass Walya noch immer in Kalanis Haus gelegen hatte. Die Wölfin senkte ihren Kopf und drehte sich weg.
„Sie ist gestorben, nicht wahr?“ folgerte die Seele traurig. „O Wolf, es tut mir so leid. Ich weiß, wie sehr du sie geliebt hast …“
Niedergeschlagen antwortete die Wölfin:
„Ich habe an diesem Tag meine Freundin Wayla verloren und in gewisser Weise auch meinen Vater Atevo. Er war der Anführer der Wachen und befehligte diesen Vergeltungsschlag.“
“Aber das … das ergibt keinen Sinn!” prustete das Entlein. „Wie konnte er befehligen, dein Haus zu zerstören? Ein Vater, der das Leben seiner Tochter ruiniert?! Wie konnte er das tun?“
In die entstehende Stille sprach die Seele ihre Gedanken aus: „Vielleicht hatte auch er keine Wahl? Seine Tochter leitete einen Aufstand an, und es war sein Job als Leiter der Wache, genau so etwas zu verhindern. Überleg‘ mal, er konnte ja wohl kaum seine Männer anweisen, all die Aufständischen zu bestrafen, aber seine Tochter, die Anführerin, zu verschonen. Was hätte das für ein Bild von ihm abgegeben?“
„Entschuldige, aber ich denke, er hatte durchaus die Wahl gehabt. Auch bereits vorher.“ Die Stimme der Wölfin war entschlossen. „Mit etwas mehr Verstand hätte er sehen müssen, dass er durch das Ausbeuten der Dorfbewohner auch die Perspektive seiner eigenen Tochter zerstörte. Aber er war blind geworden, blind durch seinen eigenen Erfolg und seine Karriere unter dem König. Er und seine Wachen waren nie hungrig, da bin ich sicher. Und sie wussten, wie schlecht es uns ging. Sie sahen es jedes Mal, wenn sie ihren Tribut abholten. Sie wussten, dass die Leute an Hunger und Seuchen starben. Aber wisst ihr …, er war seit Jahren nicht mehr persönlich in mein Haus gekommen. Als ob er Angst hatte, der Wahrheit ins Auge zu sehen.“
„Hattest du damals eine eigene Familie, Kalani?“ fragte das Entlein die Wölfin.
„Nein, leider nicht. Das, was ich Familie nennen konnte, habe ich an jenem Tage verloren. Und dieser Aufstand war der Grund, warum ich niemals eine eigene Familie haben würde. … Im Grunde … als wir vorhin zusammen im Wasserbecken gespielt haben … das war das erste Mal, dass ich seit dem Tod von Wayla das Gefühl hatte, wieder soetwas wie eine Familie zu haben.“
„Oh …“
„Ich denke, du wirst das noch besser verstehen, wenn wir unsere Reise fortsetzen.“
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Die Wölfin übernahm wieder den Körper des Entleins, und dieses stampfte auch die folgenden Treppen hinauf bis zur Spitze der Burg. Natürlich schaute es dabei auf den Terrassen auch immer nach Pilzen in der Nähe. Aber irgendwie machte ihm die Pilzsuche gerade nicht so recht Spaß. Seine Gedanken kreisten noch immer um das gerade Erlebte.
Endlich standen die Gefährten oben auf dem höchsten Plateau der Burg. Hier ragten nur die Ruinen einiger weiterer Gebäude in die Höhe. In ihrer Mitte lag ein umgestürzter Obelisk.
„Und wo lang nun?“ fragte das Entlein die Seele. Diese kreiste etwas in der Luft und kam dann hinunter zum Küken.
“Komm mit.“ Sie leitete das Küken zum Rand des Plateaus. „Nach dem, was ich aus der Luft gesehen habe sollten wir da runter gehen. Siehst du diesen Wachturm da unten im Zwielicht? Gleich rechts davon ist der Canyon, von dem der Wombat vorhin erzählt hat. Erinnerst du dich? Er hat gesagt, eine Ente sei dort reingeflogen. Mangels einer sinnvollen Alternative würde ich sagen, wir sollten dort unten mal nachschauen.
Da war dieser umgefallene Obelisk auf dem Plateau. Er hatte viele Jahre stolz über der Burg gethront, aber die Zeit hatte an ihm genagt, und einige Gürtelmulle sein Fundament unterhöhlt. So war er eines Tages umgestürzt und zerbrochen. So wie er gefallen war, bildete seine Spitze eine Rampe hinab zur darunterliegenden Wiese. Das Entlein suchte und fand eine Stelle, wo es auf die Steinstruktur hinaufspringen konnte. Oben schaute es nach links, hinunter in Richtung des Canyons, watschelte dann aber erst einmal in die Gegenrichtung, hinauf zur Basis des Obelisken.
„Schau, Seele, von hier aus kann ich auch ganz weit in alle Richtungen sehen!“
“Stimmt, man kann sogar noch erkennen, von wo aus wir heute Morgen das erste Mal auf diesen Ort geschaut habe. Keine große Entfernung, wenn man fliegen kann wie ich, aber für dich war es ein ganz schöner Weg.“
Und wieder verließ die Wölfin den Körper des Entleins und gesellte sich zu den Zweien.
Dann sprach sie zum Küken:
„Genau, Kleiner. Und ich bin wirklich stolz auf dich. Vor ein paar Stunden war ich nicht sicher, ob wir beide gemeinsam hier oben stehen könnten … und schau, nun sind wir da. Und hoffentlich auch etwas schlauer als heute Morgen. Weißt du, Ich denke es ist an der Zeit, dass du einen richtigen Namen bekommst. Deine eigene ‘Wall’qa’-Zeremonie sozusagen. Ich habe zwar kein Namensamulett für dich – und wahrscheinlich fliegst du ohne Amulett auch besser. Aber ich denke, ich habe einen passenden Namen für die gefunden. Bist du bereit?
„Natürlich bin ich.“
„Ich würde dich von nun an gern ‘Inayo‘ nennen. Es bedeutet „Der Ausdauernde“. Ich denke, deine Beharrlichkeit ist eine deiner Schlüsselqualitäten, etwas, dass dich von anderen abhebt. Ich glaube nicht, dass es noch viele Entenküken gibt, die mit solch einer Hingabe eine fremde Welt erkundet haben und am Ende von so einem Tag immer noch bereit wären, nach Pilzen zu suchen. Na, was meinst du?“
„Inayo … gefällt mir. Danke“
Und das Küken legte seinen kleinen Flügel um das rechte Vorderbein der Wölfin, die von dieser Dankesgeste sehr gerührt war.
„Mit einer ‘Wall’qa’ sind wir nun echt eine Familie.“ kommentierte die Seele. „Ich hoffe, deine Beharrlichkeit bringt dich und uns alle näher zu unseren wahren Zielen. Vielleicht findest du doch noch deine Mutter wieder. Vielleicht verhilft sie uns, Antworten zu finden, etwa, warum der Wolf und ich noch nicht in der Stadt des Lichts sind, sonder noch immer hier unten. … Aber hab‘ Acht. Beharrlichkeit hat auch ihre Schattenseite – man nennt sie Starrsinn. Das ist dann, wenn jemand seine Ziele gegen alle Vernunft verfolgt, wenn jemand alle Zeichen und Warnungen ignoriert, die ihm sagen, dass es der falsche Weg ist. Ich wünsche dir, dass du solche Zeichen erkennen kannst und den Mut hast, falls nötig deine Pläne zu revidieren.“
„Oh … okay.“ antwortete das Entlein. Und die Wölfin fügte hinzu:
„Ich wünschte, mein Vater Atevo hätte diese Gabe gehabt … Aber lasst uns diesen schönen Moment nicht mit düsteren Gedanken kaputtmachen.“
„Ich sag ja nur …“
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Nach ein paar Minuten des Verweilens war die Wölfin wieder im Körper des Entleins, und dieses machte sich daran, den umgefallenen Obelisken in Richtung der darunter liegenden Wiese hinabzulaufen, wobei es ab und an mit den Flügeln schlug, als wollte es dabei noch seine Flügelchen trainieren. Dann liefen Inayo und die Seele die steile Bergwiese hinab. Das Küken machte sich einen Spaß daraus, durch hohle Baumstämme hindurchzulaufen oder zu versuchen, Pusteblumen zu verstreuen.
Bald jedoch standen beide am Ende der Wiese vor einem Abgrund. Zur Rechten versperrten die hohen Wände der Berge ein Weiterkommen. In einiger Entfernung voraus konnte man im Staub einen schwarzen Wachturm sehen. Aber bis dorthin musste man das Tal überfliegen. Vorsichtig schaute das Küken über die Kante. Die Schlucht war sicher Hunderte von Metern tief und hatte steile Hänge.
Ein Schwarm bunter Kolibris beobachtete sie dabei und einer von ihnen, ein rotfarbener, kam zum Küken herübergeflogen.
„Einen schönen Nachmittag wünsche ich, kleines Entlein. Kann ich vielleicht helfen?“
„Sei gegrüßt, Kolibri. Ich weiß noch nicht … Ich denke, ich muss durch diesen Canyon dort rechts fliegen, also muss ich wohl irgendwie zu dem Turm da drüben kommen.“
Der Kolibri konnte sein Erstaunen kaum verbergen.
„Ich fürchte, das ist nicht möglich. Dazu müsstest du gut fliegen können … und selbst dann … Aber zuerst verrate mir doch bitte, warum du überhaupt in diesen Canyon möchtest.“
„Die Seele … dieser rot leuchtende Ball über meinem Kopf … wir sind auf einer Reise, einer Suche. Es scheint, dass der einzige weitere Weg genau durch diesen Canyon führt. Außerdem suche ich nach meiner Mutter. In den Ruinen hinter mir gab es einen Wombat, der erzählt hat, er hätte heute eine Ente dort hineinfliegen sehen.“
„Ja, das stimmt. Einige von uns haben sie auch gesehen, etwa zur Mittagszeit. Muss wohl ein Vogel gewesen sein, der sich hier nicht auskennt. Zuerst kreiste er in der Umgebung und dann ist er dort reingeflogen. Seither habe ich ihn nicht wiedergesehen. Weißt du … der Canyon ist ziemlich gefährlich, zumindest für jemand wie mich. Oft pfeifen dort heftige Winde hindurch und selbst erfahrene Flieger wie wir müssen aufpassen, nicht versehentlich in den Canyon geblasen zu werden.“
„Oh … weißt du denn, wohin der Canyon führt?“
„Nun ja, ich selbst war noch nicht drin, und da nur wenige jemals wieder herausgekommen sind, habe ich das auch nicht vor. Aber eine meiner Gefährtinnen schaffte an einem windstillen Tag mal den Weg zurück. Sie erzählte von einer durchaus angenehmen Landschaft mit Teichen, vielen Blumen, Insekten … also nach dem was sie erzählt hat, klang es nicht schlecht für Vögel wie uns.“
„Na immerhin ein Lichtblick.“
„Ja schon, aber das allein bringt dich dort nicht hin. Wärst du ein Kolibri, würde ich denken…“
Die Seele unterbrach ihn.
„So klein dieses Küken dir erscheinen mag, er hat bereits zwei Schluchten überquert. Unterschätzte ihn bitte nicht.“
Vor Schreck flog der Kolibri zwei Meter rückwärts: „Wie jetzt … die Kugel kann sprechen?!“
„Wie Inayo bereits gesagt hat, ich bin eine Seele. Und ja, zum Glück kann ich kommunizieren, ansonsten wäre ich wohl noch immer an dem Ort, an dem ich mich vor einigen Tagen vorgefunden habe. Aber keine Angst, ich tue nichts und habe bereits einige Zeit mit Kolibris verbracht.“
Der Kolibri schwirrte etwas näher, während das Entlein wieder sprach:
„Ja, wir beiden sind sozusagen ein Team. Die Seele kann sehr gut fliegen, ich selbst … noch nicht gut. Aber dafür kann ich in der Luft laufen, also sollte ich trotzdem da rüber kommen.“
Der Kolibri schaute ungläubig auf das Küken: „In der Luft laufen. Echt? Was erzählst du mir als nächstes? Dass du ein verzauberter Wolf bist?!“
Inayo öffnete seinen Schnabel, aber schloss ihn wieder. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
„Glaub uns, ich habe es auch gesehen.“ kam ihm die Seele zur Unterstützung. Dann wandte sie sich an Inayo:
„Ich fürchte, wenn wir unsere Reise fortsetzen wollen, haben wir wohl keine andere Wahl. Aber wenn du nicht springen möchtest, kann ich das voll und ganz verstehen.“ Und dann kam sie nahe heran und wisperte dem Küken ins Ohr: „Und ich glaube, dein ‚verzauberter Wolf‘ würde es dir auch nicht übel nehmen.“
„Ihr seid echt die seltsamste Reisegesellschaft, die hier je vorbeigekommen ist.“ kommentierte der Kolibri. Inayo jedoch antwortete:
„Vielleicht sind wir das. Ich habe jedenfalls beschlossen, das wir auch gemeinsam weiterreisen sollten. Der Canyon wirkt ziemlich bedrohlich, aber ich vertraue der Aussage des Kolibris. Und ich denke, ich kann dort hingelangen. Zur Sicherheit suche ich mir nur noch einen besseren Startplatz.“
Und mit diesen Worten watschelte er zur Linken und auf einen Felsbrocken hinauf, der dort direkt an der Kante lag. Inzwischen hatte er die Aufmerksamkeit des gesamten Kolibrischwarms. Die Kolibris summten nervös, einige diskutierten, ob sie das Küken besser aufhalten sollten.
Aber da war es auch schon zu spät: Das Küken war vom Felsen abgesprungen und wie bereits zuvor fiel es erst mehrere Meter in die Tiefe, bevor es sich fing und dann seinen Luftspaziergang in Richtung des schwarzen Turmes begann, der auf der Ecke einer Terrasse stand. Rechts daneben befand sich der Eingang zum Canyon. Kolibri und Seele folgten dem Küken mit etwas Abstand.
Je näher der Turm kam, desto stärker wurde der Wind, und noch ehe das Küken die Chance hatte, auch nur einen Fuß auf den Boden der gegenüberliegenden Seite zu setzen, wurde es vom Sturm direkt in den Canyon gedrückt. Die Seele eilte hinterher, hatte aber Schwierigkeiten, es wieder einzuholen. Blätter, Blüten und Äste trieben im Wind, und es war fast unmöglich, in dem Durcheinander ein kleines schwarzes Entlein auszumachen.
Es wurde eine rechte Achterbahnfahrt für das Küken, eine, an die es sich noch lange erinnern würde. Es wurde in atemberaubender Geschwindigkeit durch den Canyon geschleudert, mal kopfüber, mal kopfunter. Bilder ständig neuer Landschaften zogen vor seinen Augen vorbei – enge Höhlen, breitere grasbewachsene Abschnitte, Blumen auf dem Boden des Canyons und schließlich ein Tunnel mit Bäumen, von denen einige starke Äste mitten durch den Tunnel ragten – mitten in der Richtung, in die das Küken geweht wurde. Inayo schloss seine Augen und erwartete jeden Moment einen Zusammenstoß.
Ein paar Sekunden später schlug er auf den Boden auf.
Kapitel 6 – Die Rettungsente
Minuten vergingen, bis das Entlein sich traute, wieder seine Augen zu öffnen. Sonnenlicht und Vogelzwitschern grüßten es. Langsam kam es wieder auf die Füße und schaute sich um. Es saß auf einer friedvollen Wiese, umgeben von Bergen. Hinter ihm konnte es eine Öffnung in der Felswand erkennen und konnte den Luftstrom fühlen, der aus dieser Öffnung kam. Ganz klar, das war der Weg, auf dem es hierhergekommen war.
Die Wölfin lag nur wenige Meter entfernt. Vorsichtig näherte sich ihr das Entlein. Da hörte es eine bekannte Stimme:
„Schön dich wieder auf den Beinen zu sehen, Inayo. Alles okay bei dir?“ Die Seele umkreiste ihn wie so oft.
„Scheint so, mir ist nur noch etwas schwindelig. Und wie geht‘s dir.“
„Danke, ich bin unversehrt.“ lachte die Seele. „Das ist das einzig Gute daran, wenn man schon tot ist. Man kann nicht sterben … Was man von euch beiden leider nicht sagen kann. Und ich mache mir Sorgen um Kalani. Als ihr beiden aus diesem Loch dort drüben angeflogen kamt, hat sich die Wölfin von dir getrennt und hat eine Bruchlandung hingelegt. Seitdem rührt sie sich nicht mehr. Ich hoffe, sie ist nicht ernsthaft verletzt. Ich meine, als Seele kann ich schwerlich Erste Hilfe leisten.“
Das Entlein lief hinüber zum Körper der Wölfin und stellte beruhigt fest, dass sie atmete.
„Sie lebt noch.“
„Gut zu hören. Vielleicht … ja, ich werde Hilfe holen. Du kannst derweil bei ihr bleiben und dich erholen.“
Das Küken war einverstanden, und die Seele flog von dannen. Sie musste nicht lange suchen. Nur einige Dutzend Meter weiter gab es einen Teich, und einige Enten schwammen darauf oder saßen an seinem Ufer. Dorthin schwebte die Seele, und aus gebührender Entfernung grüßte sie die Enten. Ein vielstimmiges aufgeregtes Quaken war die Folge.“
„Entschuldigt bitte, ihr müsst keine Angst haben. Ich benötige nur mal eure Hilfe. Da vorn liegt ein … äh … ein Kamerad von mir, und sie ist womöglich verletzt, nachdem sie durch den stürmischen Canyon geweht wurde.“
„Och nööö, hoffentlich nicht wieder ein gebrochener Flügel.“ klagte einer der Erpel. „Hatten wir schon zwei dieses Jahr. Diese Stürme im Canyon fordern echt ihren Tribut.“
„Also das … äh … kann ich ausschließen.“ erwiderte die Seele vorsichtig. „Garantiert kein gebrochener Flügel.“
„Ich bin zwar keine Rettungsente, aber ich schaue mal, was ich ausrichten kann. Wo ist dein Kamerad?“
„Gleich da drüben, nahe beim Ausgang vom Canyon. Ich führe dich hin.“
Noch immer fragte sich die Seele, wie sie erklären sollte, was genau der Patient war, aber der Erpel hob rasch ab, und so setzte sich auch die Seele in Bewegung. Und tatsächlich, nur Sekunden später hörte man den Erpel kreischen:
„Ah, Hilfe! Da unten ist ein Wolf! Das ist eine Falle!“ Und ohne zu landen, flog er einen Halbkreis und war schon im Begriff, zum Teich zurückzukehren. Doch da hatte das Küken seine Aufmerksamkeit erregt, indem es wie wild auf und nieder hüpfte: „Hier drüben, hier drüben!“
Der Erpel flog einen weiteren Kreis und stellte fest, dass sich der Wolf nicht bewegte. Da landete er auf der vom Wolf abgewandten Seite von Inayo. Mit dem Flügel gab er diesem lautlos ein Zeichen, näherzukommen. Als das Küken nahe genug war, flüsterte ihm der Erpel zu:
„Okay, folge mir einfach und sei bitte ganz leise.“
„Häh? Was … ?“ flüsterte das Küken zurück.
„Ich werde dich retten. Dieser Wolf wird dich nicht zu Abend verspeisen, das verspreche ich.“
Da fiel bei Inayo der Groschen.
„Nicht ich bin der, der Hilfe braucht, sondern die Wölfin da drüben.“
Die Ente stutzte: „Wie bitte?!“
„Sie ist mein Freund. Ich kann dir das später erklären. Sie will mich gar nicht fressen.“
„Hmm … vielleicht dich nicht. Du bist ja nur eine halbe Portion. Aber ich bin ziemlich sicher, jeder Wolf würde einen Erpel wie mich mit Genuss verspeisen. Brrr … besser nicht daran denken. Bist du ganz sicher, dass du diesem Wolf echt vertrauen kannst?“
“Ganz sicher.” Und während Inayo das sagte, lief er wieder zur Wölfin hinüber und legte sich an ihre Schnauze.
Langsam kam der Erpel näher, immer auf Lebenszeichen des Wolfes achtend.
„Und was genau … soll ich hier tun?“
Die Seele beantwortete stattdessen seine Frage: „Nun ja, die Wölfin hatte eine sehr unsanfte Landung und ist seitdem bewusstlos. Mehr weiß ich leider auch nicht.“
„So sind mir die Wölfe eigentlich am liebsten.“ murmelte der Erpel zu sich selbst. Aber dann sah er das bittende Gesicht des Entenkükens. Er seufzte, nahm all seinen Mut zusammen und lief um die Wölfin herum. Von hinten kitzelte er die Schnauze der Wölfin mit seinen Handschwingen und stieß dabei ein lautes „Quack quack“ aus, laut genug, dass man es noch überall auf dem nahen Teich hörte. Dann suchte er nach Deckung, bereit zum Abflug, sollte dies nötig werden.
Tatsächlich bebte der Körper der Wölfin. Sie hob ihren Kopf und … nieste. Das Entlein nahm vor Schreck auch erst einmal Abstand, kam aber gleich wieder zurück.
„Oh Kalani … schön, dass du am Leben bist. Wie geht es dir?”
Die Wölfin schaute sich um und prüfte dann nacheinander ihre vier Beine. Dann legte sie den Kopf wieder auf ihre Vorderpfoten.
„Ich hab‘ ziemliche Kopfschmerzen. Und sicher einige Kratzer und Prellungen. Aber das wird schon wieder. Gib mir etwas Zeit.“
“Äh … braucht ihr meine Dienste noch?” fragte eine Stimme hinter einem nahen Busch. Die Wölfin stutzte, aber das Küken antwortete.
„Nein, ich glaube nicht. Aber vielen, vielen Dank. Ich schaue später mal vorbei.“
„Gut. Du bist bei uns am Teich durchaus willkommen. Eventuell … sogar mit deiner Begleitung. Aber bitte nicht zum Abendessen.“
Inayo lachte, als der Erpel hinter dem Busch aufstieg und zu seinem Teich zurückkehrte.
„Wer war das?“ fragte die Wölfin, noch immer etwas benommen.
„Ein netter Erpel, der mir geholfen hat, dich aufzuwecken. Als Gegenleistung bittet er darum, dass er und seine Gefährten nicht gefressen werden.“
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Eine Stunde später waren die Kopfschmerzen der Wölfin langsam abgeklungen und sie fühlte sich bereit, weiterzulaufen. In der Zwischenzeit hatte das Entlein an frischem Gras und Kräutern in der Nähe geknabbert. Die Seele hatte bei einer Pilzsuche die Gegend erkundet und sie für gut befunden – so weit sie das für Enten beurteilen konnte.
Schließlich stand auch die Wölfin auf und sprach zu Inayo:
„Ich schätze, das Beste wird sein, hier in der Nähe zu übernachten. Die Sonne ist bereits hinter den Bergen verschwunden, und mir steht der Sinn heute nicht mehr nach weiteren Abenteuern. Ich werde am besten wieder in deinen Körper schlüpfen, dann ängstige ich die Wasservögel hier nicht. Aber bitte sei so nett und such‘ uns einen gemütlichen Schlafplatz, wo ich wieder ich selbst sein kann.“
„Na klar, Kalani.“
Und damit machte sich das Entlein auf in Richtung des Teiches, um dort seinesgleichen zu treffen. Die Seele hingegen surrte zu einem Wasserfall über dem Tümpel und meditierte – sie spürte, dass sie an diesem Tag nicht mehr benötigt würde.
Der Teich war eigentlich nur der unterste Teil einer Wasserlandschaft, die sich über mehrere Plateaus erstreckte, die durch kleine Wasserkaskaden miteinander verbunden waren. Eine Handvoll Enten waren auf oder an dem untersten Teich anzutreffen. Darunter war auch der schwarze Erpel, den das Küken bereits kennengelernt hatte.
Offenbar hatte sich die Nachricht von der sonderbaren Reisegruppe bereits über den Teich verbreitet, denn gleich kamen die Enten von allen Seiten heran, um jenes Küken zu sehen, von dem es hieß, es sei mit einem ausgewachsenen Wolf unterwegs. Der Erpel hieß Inayo willkommen und stellte ihm seine Familie vor, eine weiße Ente sowie zwei weiße und ein schwarzes Küken, ungefähr in dem gleichen Alter wie Inayo.
Nachdem dieser sich ebenfalls vorgestellt hatte, wurde er natürlich ausgefragt, wo er herkäme und wie er zu der seltsamen Bekanntschaft kam, und Inayo erzählte geduldig den Großteil seiner Geschichte. Natürlich vergaß er auch nicht, nach seiner Mutter zu fragen.
„Oh, ich glaube, du bist auf der richtigen Fährte, Inayo“ sagte die weiße Ente mit den Küken. „Jetzt wo du es erwähnst … etwa zur Mittagszeit ist hier ein schwarzer Erpel vorbeigeflogen, landete kurz und erkundigte sich nach einem schwarzen Entenküken. Ich könnte wetten, das war dein Vater.“
Inayos Herz machte einen Sprung, als er das hörte. Er war offenbar nicht vergessen worden. Nur ob seine Mutter noch lebte, das wusste er noch immer nicht.
„Wo ist er denn von hier aus hingelaufen oder hingeflogen?“
„Oberhalb der Wasserkaskaden, da gibt es einen Pfad aus Stein, der zur Entenwiese führt. Ich habe ihm gesagt, er solle dort mal schauen, weil sich da immer so viele Enten versammeln. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du Stunden später auch hier ankommen würdest.“
„Am liebsten würde ich gleich hinlaufen und nachsehen, ob er noch dort ist.“
„Morgen ist auch noch ein Tag. Bis dahin kannst du bei uns bleiben. Ich kann dir zeigen, wo du nach den leckersten Dingen gründeln kannst.“
„Oh, sehr nett von dir.“ antwortete Inayo. Und so verbrachte er den Abend gemeinsam mit den anderen, spielte mit den Entenküken und füllte sein Bäuchlein, bis sich allmählich die Dunkelheit über den Teich legte.“
„Magst du bei uns schlafen?“ fragte die weiße Entenmutter Inayo.
Er dachte für einen Moment nach. „Ein nettes Angebot, aber ich habe schon meinen Freunden versprochen, mit ihnen die Nacht zu verbringen.“
„Natürlich, dann solltest du dein Versprechen auch halten. Gute Nacht und grüße sie von mir.“
Inayo verabschiedete sich von der Familie und verließ den Teich. Es gab eine trockene Stelle, nicht weit vom Ufer, unweit eines Wasserfalls, von der er fand, dass sie dem Wolf gefallen könnte. Er legte sich nieder, und sogleich überkam ihn wieder das seltsame Kribbeln, das anzeigte, dass die Wölfin seinen Körper verließ. Tatsächlich – da stand sie. Sie schaute sich um und legte sich dann neben ihn.
„Hübsches Plätzchen. Danke und hab‘ eine gute Nacht, Inayo.“
„Gute Nacht, Kalani. Gute Nacht, Seele.“
Kapitel 7 – Kleine Hindernisse
Es war ein lieblicher, frischer Morgen am Teich in den Bergen, als das kleine Entlein seinen Kopf unter dem Flügel hervornahm und in die Morgensonne blinzelte.
„Heute ist der Tag.“ sage es. „Der Tag, an dem ich meine Eltern wiedertreffe.“
Die Wölfin neben ihm gähnte. „Das hoffe ich für dich, Inayo.“
„Ich werde noch schnell ein Bad nehmen, etwas zu Essen suchen …“ Er stutzte und schaute die Wölfin an. „Ich habe die ganze Zeit nicht einmal gesehen, dass du etwas gegessen hast. Du musst hungrig wie ein Wolf sein.“
Ein Lächeln spielte im Gesicht der Wölfin.
„Nun, ich wollte dich damit eigentlich nicht belästigen. Aber da du nun doch fragst: Ich habe in der Nacht gejagt, ein paar Mäuse und so. Keine Angst, deine Entenfreunde sind wohlauf.“
„Oh, … wie aufmerksam, Kalani. Danke.“
Und dann machte er einen Abstecher zum nahen Teich.
Ein paar Minuten später waren alle drei zusammen, auch die Seele schwirrte wie gewohnt über Wölfin und Küken. Letzteres schlug aufgeregt mit den Flügeln und konnte es kaum erwarten.
„Ich bin reisefertig. Wir werden in Nullkommanichts an der Entenwiese sein.“
„Haben dir die Enten auch erzählt, wie du da hinkommst?“ fragte die Seele.
„Ja, die weiße Entenmutter hat es mir gestern Abend erzählt. Man muss nur dem Weg der Menschen oberhalb der Wasserkaskaden folgen, über einen Bach und …“
„Das meinte ich nicht, ich meinte wie du da hinkommen sollst. Ach … geh los, und du wirst sehen, was ich meine.“
Wie gewöhnlich schlüpfte der Wolf wieder in den Körper des Kükens, das losmarschierte und über den Teich schwamm, bis es sich unterhalb der ersten Wasserkaskade befand. Dort schlug Inayo mit den Flügeln, um zur nächsten Terrasse hinaufzuspringen, aber das Wasser drückte ihn immer wieder zurück in den Teich. Er war einfach noch nicht stark genug.
„Genau das meinte ich.“ kommentierte die Seele. „Aber ich war nicht untätig. Die gute Nachricht ist, ich habe einen Weg um diese Wasserkaskade herum gefunden.“
„Und … gibt es auch eine schlechte Nachricht?“
„Leider ja, das ist nicht die einzige Kaskade. Aber ich denke, es wird sich schon eine Lösung ergeben. Bis dahin, bitte hier entlang.“
Und die Seele leitete das Küken zu einem Felsbrocken zur Linken des Sees. Da war ein Spalt zwischen dem Felsen und dem Berghang dahinter, gerade breit genug, als dass das Entlein gut hindurchpasste. Die schiefe Ebene hinter dem Felsbrocken führte tatsächlich hinauf auf die nächste Terrasse, wo sich ein weiterer Teich befand. Zur linken wurde er durch die höheren Kaskaden mit Wasser befüllt, zur rechten floss das Wasser über die tieferen Kaskaden weiter abwärts. Ein großer hohler Baumstamm lag in der Mitte dieses Teichs. Darüber schwirrte eine Wolke Kolibris. Auch zwei weitere Enten waren am Wasser anzutreffen. Es waren ausgewachsene Enten, die natürlich keine Probleme hatten, die Kaskaden zu überfliegen.
Inayo schwamm zu den kleinen Wasserfällen, die in diesen Teich führten und ungefähr die gleiche Höhe hatten wie die untere Kaskade. Wieder versuchte er, aus eigener Kraft hinaufzugelangen. Doch ach, er konnte mit seinen Flügelchen einfach nicht hoch genug in die Luft kommen. Also versuchte er, auf einen der Steine neben den Kaskaden zu klettern. Vielleicht, wenn er von dort abspränge… Doch die Steine waren mit Algen bewachsen und zu glitschig. Alles was er erreichte, waren einige wenig elegante Platscher ins Wasser.
„Gibt es nicht vielleicht wieder einen Umweg?“ fragte er schließlich erschöpft.
„Ich fürchte nein, Kleiner. Außer du schaffst es, über die Felsen auf der rechten Seite zu klettern.“
Das Küken schwamm also zum rechten Ufer das Teichs und versuchte, auf einige der dortigen Felsen zu springen, aber sie waren zu hoch oder zu steil und er rutschte nur ab. Also kehrte er zum Teich zurück, setzte sich auf den Baumstamm in der Mitte und dachte nach. Nach einer Weile fragte er einen der Kolibris:
„Hallo. Ich könnte Hilfe benötigen. Ihr könnt doch gut fliegen und von oben alles sehen. Hat einer von euch vielleicht eine Idee, wie ich auf die nächste Terrasse hinaufgelangen könnte?
Tatsächlich schwirrte einer der Kolibris zu Inayo hinab.
„Ich weiß nicht, ob ich selbst dir helfen kann. Und die einzigen anderen Tiere, die dort oben leben, sind eine Handvoll Wombats. Ich könnte sie mal fragen, ob sie dir vielleicht helfen können, aber ich habe meine Zweifel.“
„Na ja, es wäre trotzdem nett, wenn du sie fragen könntest.“
Der Kolibri sauste stromaufwärts davon und war nach ein, zwei Minuten wieder zurück, wobei ein Wombat keuchend hinter ihm herlief. Selbiger Wombat stand alsbald auf einem Stein neben dem oberen Rand der Kaskade, die das Küken zu überwinden versucht hatte. Als Inayo den Wombat sah, verließ er den Baumstamm. Er schwamm zum Wombat hinüber, schaute zu ihm hinauf und klagte ihm sein Leid. Nachdem sich der Wombat die Geschichte angehört hatte, schaute er sich um und grunzte dabei. Schließlich antwortete er:
„Hmm … ich befürchte, ich habe auch keine gute Idee.“
„Vielleicht könntest du herunterkommen und ich könnte auf deinen Rücken klettern und von da hinaufspringen.“
„Vergiss es. Erstens würdest du dich wohl kaum auf meinem Rücken halten können. Zweitens bin ich auch nicht gerade groß, ich würde kaum aus dem Wasser ragen, wenn ich da unten stände. Und drittens – und das macht mir am meisten Sorgen: Wenn ich zu dir runter komme, dann sag mir, wie komme ich dann wieder herauf?“
Das leuchtete dem Küken ein.
“Stimmt. Aber trotzdem danke, dass du dir für mich die Füße nass gemacht hast.”
„Keine Ursache, Kleiner. Ich hoffe, dir fällt noch was ein.“
Und Wombat und Kolibri trollten sich wieder zu ihresgleichen.
In diesem Moment erschien die Wölfin. Sie stand neben Inayo im Wasser und schaute auf den Stein, auf dem der Wombat eben noch gestanden hat.
„Dieser Wombat hat mich auf eine Idee gebracht. Ich bin viel größer als er und ich bin bereits hier unten. Ich kann versuchen, dich auf die nächste Ebene zu bringen. Einen Versuch ist es wert.“
Sie lief bis zur Stelle unterhalb des Steins, neben dem Wasserfall. Dort hielt sie ihren Kopf flach über der Wasseroberfläche und bat Inayo, auf ihre Schnauze zu hüpfen. Sobald das Küken dort oben balancierte, hob sie ihren Kopf langsam an und reckte ihn in die Höhe. Das Küken machte einen Satz … und landete auf dem Stein gleich neben dem oberen Ende der Wasserkaskade. Es drehte sich um:
„Du bis toll, Kalani.“
„Hätte nicht gedacht, dass mir eines Tages mal ein Küken auf der Nase herumtanzt.“
„Ha ha, ich auch nicht. Wie kann ich dir nur für deine guten Ideen danken.“
„Nun … zum Beispiel, in dem du mich jetzt auch hochholst.“
„Warte … was?“ Inayo war irritiert. Wie sollte er das anstellen?
Aber die Wölfin lachte:
„Ach Inayo, ich hab‘ doch nur Spaß gemacht. Ich kann doch von hier einfach in deinen Körper zurückkehren, und dann können wir gemeinsam weiterreisen.“
„Oh … gut.“
Und die Wölfin tat wie sie gesagt hatte. Dann, als sich Inayo umdrehte, stellte er überrascht fest, dass sich noch eine weitere Wasserkaskade auf seinem Weg befand. Die Seele erriet seine Gedanken und kam herunter:
„Keine Sorge, Inayo, die kannst du auf der rechten Seite ganz einfach umgehen.“
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Und so konnte die Gesellschaft am Ende doch noch ihre Reise stromaufwärts fortsetzen. Nach wenigen Minuten trafen sie am Bachufer den Wombat, der nicht wenig erstaunt war, als er das Küken kommen sah. Inayo erzählte, wie er am Ende doch noch nach oben gelangt war und wie er einen „Wolf im Inneren“ trug. Als er fertig war, meinte der Wombat:
„Hüte deinen ‚Wolf im Inneren‘ nur gut. Er scheint mir recht wertvoll zu sein! Ach übrigens … möchtest du vielleicht meine Familie kennenlernen. Wir könnten zusammen ein paar Pilze essen.“
Zuerst wollte das Küken das Angebot ausschlagen, erinnerte sich aber daran, dass Wölfin und Seele so viel an Pilzen lag. Und so stimmte er zu. Die drei passierten einen hohen Steinbogen und kurz dahinter verschwand der Wombat durch einen Spalt zwischen den Felsen, den man leicht übersah, wenn man nicht wusste, dass er da war. Der Pfad führte zu einer Wiese mit einigen Bäumen, die tief zwischen den Berghängen versteckt lag. An ihrem anderen Ende begann ein typischer Wombattunnel, nicht groß genug für einen Wolf, aber ausreichend, als dass Wombats und Entenküken problemlos hindurchpassten.
„Ich warte wieder draußen.“ entschuldigte sich die Seele, als Inayo den Tunnel betrat.
Wie der Wombatvater versprochen hatte, fand Inayo im Inneren Mutter Wombat und ihr Kind
Beide waren gerade in der vorderen Kammer mit Fellpflege beschäftigt und waren natürlich überrascht über den unerwarteten Besuch. Aber wie formulierte es die die Mutter: „Es schadet nicht, über Dinge jenseits der eigenen Höhle zu lernen.“ Und nachdem sie gemeinsam zur Speisekammer gelaufen waren, erzählte das Küken erneut seine Geschichte und erntete etliche „Ahs“ und „Ohs“ von den drei Wombats. Natürlich vergaß er auch nicht, ein paar Pilzsporen zu verteilen, wie er es gelehrt hatte.
Nach dem Snack brachten die Wombats Inayo wieder zum Höhlenausgang und wünschten ihm noch viel Glück auf der weiteren Suche nach Antworten und nach seinen Eltern.
Kurz darauf waren Entlein und Seele wieder zurück auf dem mit Steinen gepflasterten Pfad der Menschen. Dieser führte sie in eine offenere Landschaft. An einer Furt über einen Bach gab es eine weitere rote Rauchsäule. Als sie aktiviert wurde, brachte Sie eine Erinnerung an eine Zeit zum Vorschein, als Kalani und ihre Anhänger den Bach dreckig und stinkend vorgefunden hatten.
„Ich habe nie zuvor darüber nachgedacht.“ sagte das Küken hinterher. „Aber wir können echt froh sein, dass das Wasser heute wieder so klar und sauber ist. Sauberes Wasser bedeutet sauberes Essen für mich… Meint ihr, das hängt damit zusammen, dass die Yanrana seitdem verschwunden sind?
„Ich weiß nicht. Ich erinnere mich nicht.“ antwortete die Seele.
Der Wolf erschien wieder neben dem Küken.
„Du solltest es eigentlich wissen, Seele.“ sprach Kalani. „Du müsstest es wirklich wissen. Wir beide waren in unseren vorigen Leben Yanrana. Das Volk der Yanrana war in der Lage, große Burgen zu bauen, wie wir gesehen haben. Wir hatten Felder, hatten Keramik, wir konnten wertvolle Schmuckstücke und Kunst herstellen. Wir hatten eine weit entwickelte Zivilisation, wie wir solche Errungenschaften gern bezeichnen. Aber wir hatten auch unsere Schwächen. Eine davon war, die Welt und ihre Ressourcen – Wasser, Erde und Tiere – als selbstverständlich anzusehen, als etwas, das immer da sein würde, egal wie wir es nutzten. Erst als das Wasser durch Landwirtschaft, Bergbau und unsere Hinterlassenschaften so dreckig war, dass die Leute krank wurden, wenn sie es tranken … erst dann merkten sie, dass sie davon abhingen. Zumindest die Dorfbewohner, die nicht Zugang zu dem sauberen Regenwasser in den Burgzisternen hatten.“
„Aber hat euer Volk nicht schon lange Zeit in dieser Landschaft hier gelebt? Da hätten es die Leute doch besser wissen müssen, oder?“ fragte das Entlein.
„Etwas zu wissen ist eine Sache, diese Weisheit auch anwenden zu können, ist etwas ganz anderes. Und damit sind wir wieder bei meinem Grundproblem, damals, als ich diese Menschenfrau war. Man hat den Bauern das meiste ihres Essens weggenommen, die Dorfbevölkerung war arm, hungrig und viele waren krank. Meinst du, da hat sich einer von uns um die Sorgen kleiner Entenküken Gedanken gemacht? Nein, die Leute hätten ohne Zögern jede Ente gegessen, die sie fangen konnten. In guten Zeiten, wenn es genügend zu Essen gibt, kümmern sich die meisten Menschen auch um ihre Umwelt, seien es andere Menschen, Tiere, Pflanzen oder eben Flüsse. Aber nicht in Zeiten von Not. Da denken die meisten zuerst an sich selbst. Ich fürchte, das wird sich niemals ändern.“
„Aber du hast dich auch um Andere gekümmert. Ich habe es in den Erinnerungen gestern gesehen, du hast dein Brot mit den Armen geteilt.“
Die Wölfin seufzte.
„Ich wünschte, ich könnte sagen, ich hätte mich um alle gekümmert. Aber … es ist nicht wahr. Ich war fokussiert darauf, die Leute im Dorf zu unterstützten … und meine Freundin Wayla gesund zu pflegen. Auch mir waren damals Enten und Flüsse sehr egal. Zumindest so lange, bis ich hierher kam, und das verschmutzte Wasser hier nicht trinken konnte. Ich hoffe, du verstehst das.“
„Ich denke schon.“
Kapitel 8 – Sheras Teich
Entlein und Seele folgten weiter dem Menschenpfad, der nun für eine Weile parallel zum Bachlauf verlief. Noch einmal verengte sich das Tal – gerade dass der Weg links neben dem Bach Platz hatte. Aber dann erreichten sie eine offene Landschaft und das Herz des Entleins machte einen Sprung. Mehr als ein Dutzend Moschusenten grasten und liefen auf der Wiese, die vor ihnen lag.
Das musste der Ort sein, von dem die Enten an den Wasserkaskaden erzählt hatten. Die Seele beobachtete das Treiben aus einiger Entfernung – sie wollte eine Panik unter den Enten auf jeden Fall vermeiden.
Inayo hingegen lief direkt in den Schwarm hinein und im Zick-Zack zwischen den Enten hin- und her, immer auf der Suche nach seinen Eltern. Das hohe Gras erschwerte die Orientierung und es war beinahe unmöglich, den Überblick zu behalten, welche Enten er schon gesehen hatte, insbesondere wenn diese immer wieder umherliefen. Bald schon war er außer Puste, hatte aber noch immer weder seinen Vater, geschweige denn seine Mutter gesehen. So stand er keuchend inmitten der quakenden Enten, als er eine knarrende Entenstimme vernahm.
„Wen haben wir denn da? Ein Küken … Hallo, Kleiner.“
Es waren die Worte einer alten weißen Ente, die langsam auf Inayo zuwatschelte. Und da dieser nicht gleich antwortete, fügte sie hinzu:
„Du bist neu hier, nicht war? Ich kann mich nicht erinnern, dich zuvor schon hier gesehen zu haben. Du suchst etwas?“
„Äh … ja, ich bin neu hier. Und ich suche meine Eltern. Sie sollten hier irgendwo sein …“
„Verstehe … oh, ich sollte mich erstmal vorstellen. Ich bin Shera, die älteste Ente hier in der Gegend. Ich mag alt sein, aber ich denke, ich kenne jeden hier. Außer dir. Magst du mir auch deinen Namen verraten?“
„Ich bin Inayo. Aber ich habe den Namen erst seit gestern.“
„Also ob das ein Problem wäre. ‚Inayo‘ sagst du? Da haben dir deine Eltern aber einen hübschen Namen gegeben.“
“Das waren nicht meine Eltern. Das war … eine Wölfin, die diesen Namen ausgesucht hat.”
“Eine Wölfin, sagst du? Na das musst du mir aber erzählen. Soetwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört. Wir könnten rüber zum Bach gehen, da kenne ich eine Stelle, wo es ruhiger ist als hier, da kannst du mir deine Geschichte erzählen.“
„Aber … ich sollte besser erstmal meine Eltern finden. Eine Ente bei den Wasserkaskaden hat gesagt, mein Vater könnte hier sein.“
„Natürlich, wie unhöflich von mir. Das hatte ich fast vergessen. Sag, ist dein Papa auch schwarz, so wie du?“
„Ja, ja. Kennst du ihn?“
Die alte Ente lächelte.
„Es scheint, dass du am Ende doch noch am richtigen Ort angekommen bist. Weißt du, genauso wie du gerade eingetroffen bist, kam gestern ein schwarzer Erpel auf der Suche nach einem Küken hier an. Ich habe ihn Willkommen geheißen, so wie ich das mit allen Neuankömmlingen hier mache. Wenn das nicht dein Papa war, dann bin ich ein fliegender Wombat.“
„Und wo ist er? Ich habe ihn nicht gesehen.“
„Er ist zum Teich weitergeflogen, nachschauen, ob du vielleicht dort bist. Und da er noch nicht zurückgekommen ist, wird er wohl noch irgendwo da unten sein. Wir können einfach hinfliegen und nachsehen. Du kannst doch schon fliegen, oder nicht?
„Noch nicht gut … aber ich kann ein paar coole Tricks.“
Shera schüttelte ungläubig ihren Kopf.
„Aha. Also damals, als ich ein Jungvogel war, da lernten wir erst zu fliegen, und dann lernten wir die Tricks, aber vielleicht ist das ja heute anders … Na egal, dann laufen wir halt zum Teich.
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Und sie führte Inayo einen Pfad entlang, der von der Wiese hinabführte und gesäumt war von roten Pflanzen und purpurnen Blüten. Zu ihrer Linken stand auf einem Felsvorsprung ein solitärer Baum. Er hatte eine eigenartig geformte, flache Krone, die Inayo an das Profil eines Kolibris erinnerte, nur ohne Flügel.
Shera erriet seine Gedanken und erklärte:
„Wir nennen ihn den ‚Vogelbaum‘. Er ist ein Orientierungspunkt für die Vögel hier, so lange ich denken kann. Und vermutlich ist das auch der Grund, warum sich hier seit einiger Zeit wieder so viele Enten versammeln. Das, und sicher auch die wunderbare Landschaft da unten am Teich.“
„War sie schon immer so wunderbar? Ich habe heute gelernt, das Wasser hier war früher verschmutzt.“
„Da hast du recht. Oh … erinnere mich bloß nicht an diese Zeiten. Kaum dass unsereiner noch genießbares Futter finden konnte … Und schau, heute gibt es sogar wieder Fische im Teich.“
Tatsächlich, als sie das Ufer erreichten, konnte das Küken rote und blaue Fische sehen, die von Zeit zu Zeit aus dem Wasser sprangen. Die beiden Enten watschelten ins Wasser und setzten ihren Weg auf dem Teich fort, der wie eine Schlange zwischen den Felsen auf dem Talgrund eingebettet lag. An den seichten Stellen entlang seines Ufers wuchsen Trauerweiden und Blumen.
„Das ist ein hübscher Ort.“ kommentierte Inayo die Umgebung.
„Ja, heute ist er das wieder, und ich bin stolz, ihn mein Zuhause nennen zu können. Schau, ich wurde gleich dort vorn am Ufer geboren, unweit des kleinen Wasserfalls. Und sie zeigte mit ihrem rechten Flügel auf eine Uferstelle unterhalb der Bergwände zur Rechten, wo der Bach, dem Inayo zuvor gefolgt war, sich in den See ergoss.
An dieser Stelle machte der See eine Biegung nach links. Die beiden Enten mussten über einen flachen Felsen springen, der quer über das Wasser lag. Jenseits der Biegung wurde der Teich etwas breiter und bot eine offene Wasserfläche. Shera stutzte:
„Wo … ist er? Er müsste eigentlich …“
„Du meinst, mein Vater? Vielleicht ist er einfach noch etwas weiter geschwommen?“
„Es gibt hier kein ‚Weiter‘ für eine ausgewachsene Ente. Der See ist da vorn zu Ende. Und man kann auch nicht einfach weiterlaufen oder die hohen Felsblöcke oder Felswände am Ufer einfach überfliegen.“
Sie schwammen über die Wasserfläche, bis die Felsen direkt vor ihnen aufragten.
„Schau, Inayo. Aus Gründen, die ich nie verstanden habe, gibt es hier hinten eine Barriere. Du kannst sie nicht sehen, aber du wirst sie spüren, wenn du dort bist. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll …“
„Ich weiß, was du meinst: Eine unsichtbare Wand.“
„Du kennst sowas?“
„Ja, ich bin gestern gegen eine gelaufen. Das hat weh getan. Und ich konnte keinen Weg hindurch finden. Und dann war da noch eine, durch die ein Kolibri nicht hindurchfliegen konnte, aber ich konnte hindurch.“
„Wirklich?“ antwortete Shera nachdenklich. „Das ist fast wie hier: In diesem Fall können die Fische hindurchschwimmen, aber ausgewachsene Enten nicht, nur …“
„Nur was?“
„Ich weiß nicht, ob ich dir das erzählen sollte, Inayo. Als ich ein Küken etwa in deiner Größe war, war ich immer sehr neugierig. Und obwohl mich meine Eltern mehrfach gewarnt hatten, wollte ich immer herausfinden, wo die Fische dort hinschwammen. Sie schwammen dort unter dem großen Felsblock hindurch, das konnte ich sehen. Siehst du das Sonnenlicht dort unten hindurchscheinen? Ich dachte, wenn die Fische dort durchkommen, warum ich nicht? Und weißt du was? Ich fand einen Weg hindurch. Ich musste nur ein bisschen tauchen und die Luft anhalten, dann konnte ich den Fischen folgen.“
„Und was ist auf der anderen Seite?”
„Ein Wasserfall, ein ganz hoher. Ich konnte von oben den Fluss in der Ferne verschwinden sehen, aber da ich damals noch nicht fliegen konnte, habe ich mich nie nahe an die Kante getraut. Ich habe das später fast vergessen und wahrscheinlich wäre ich in meinem jetzigen Alter auch nicht mehr in der Lage, durch die Öffnung hindurchzutauchen.“
„Aber du meinst, mein Vater könnte dort hindurchgeschwommen sein?“
„Es ist unwahrscheinlich, aber wer weiß … vielleicht. Da er dich hier auf dem Teich nicht gefunden hat, könnte er nach einem weiteren Weg gesucht haben. Vielleicht hat er in seiner Verzweiflung eine Möglichkeit gefunden, hindurchzuschwimmen. Aber wahrscheinlich liege ich völlig daneben und er ist einfach noch hier in der Nähe.“
„Wir sollten besser auch mal auf der anderen Seite nachsehen.“
„Nein, ich bin zu alt für dieses Abenteuer. Und ich denke, für dich ist es auch zu gefährlich. Ich habe dir ja gesagt, da ist ein hoher Wasserfall auf der anderen Seite. Wenn du nicht fliegen kannst, darfst du nie nahe an die Kante schwimmen. Die Strömung ist tückisch dort. Wenn ich du wäre, würde ich nicht hinüberschwimmen.
„Ich möchte ja nur mal kurz nachsehen, ob mein Vater vielleicht hinter dem Felsblock ist…“
„Nun ja … ich bin nicht deine Mutter, ich kann es dir nicht verbieten. Wenn du es unbedingt willst, dann tu mir den Gefallen und sei bitte besonders vorsichtig. Ich werde in der Zwischenzeit hier auf dieser Seite die Ufer absuchen.“
„Na klar.“
Inayo schwamm nahe an die unsichtbare Mauer heran, schlug mit den Flügeln, plumpste zurück ins Wasser, tauchte und … konnte tatsächlich unter der Barriere hindurchtauchen. Nach ein paar Metern kam er wieder an die Oberfläche. Seine Eltern waren nicht zu sehen. Ansonsten war es genau so, wie Shera erzählt hatte. Er blickte wie durch ein Fenster oberhalb des Wasserfalls hinab auf einen schnell fließenden Fluss, der in einiger Entfernung zwischen den Bergen plötzlich zu verschwinden schien. In der Ferne konnte er einen weiteren See erahnen… Inayo war so fasziniert von dem Anblick, dass er nicht merkte, dass ihn die Strömung näher und näher an den Abgrund getrieben hatte, bis es zu spät war. Er versuchte umzukehren, aber da wurde er auch schon über die Kante getrieben und purzelte den Wasserfall hinab.
In einer blitzschnellen Reaktion fing er sich und begann wieder, durch die Luft zu laufen. Er drehte um und gelangte auf diese Weise durch den Wasserschleier hindurch und hinter den Wasserfall. Die Felswand war war fast senkrecht. Da ihm schlicht nichts Besseres einfiel, lief er immer in Richtung Wand, immer weiter, immer weiter, mal nach links, mal nach rechts in unsichtbaren Serpentinen, als suchte er nach einem Felsvorsprung. Doch die Wand war glatt. Trotzdem stellte er voller Erstaunen fest, dass er langsam aber sicher immer weiter nach oben gelangte, immer hinter dem Schleier des Wasserfalls. ‚Nur weiter.‘ dachte er. ‚Nur nicht aufgeben.‘ Er mobilisierte seine letzten Kraftreserven und gelangte wieder auf die Kante, von der das Wasser hinabfiel. Und am Rand des Flusses, wo die Strömung schwach war, konnte er zurück zu dem Felsen gelangen. Nun hatte er nur noch ein Ziel: Wieder auf die andere, die sichere Seite zu gelangen. Noch einmal holte er tief Luft, atmete aus und tauchte unter dem Felsbrocken hindurch.
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So gelangte er wieder auf den ruhigen Teich. Shera war nicht zu sehen, also steuerte er ein flaches Ufer auf der rechten Seite an. Er brauchte jetzt erst einmal etwas Erholung nach dem Schreck. Sobald er trockenen Boden unter den Füßen hatte und sich hinsetzte, spürte er durch das Prickeln, dass der Wolf seinen Körper verlassen hatte. Tatsächlich, die Wölfin legte sich neben ihn in den Sand, blickte über den See und sprach dann mit ernster Stimme zu Inayo.
„Das war knapp, nicht wahr?“
Inayo nickte nur. Er war noch immer recht außer Atem von seinem Kampf gegen Schwerkraft und Strömung.
„Erinnerst du dich, was dir die Seele gestern erzählt hat, als wir oben auf der Burg waren? Über den Unterschied zwischen Beharrlichkeit und Starrsinn? Diese alte Ente hat dich mehr als einmal gewarnt. Du wolltest trotzdem unbedingt auf die andere Seite, wolltest es so unbedingt, dass du ihre Warnungen ignoriert hast. Du hast dein Leben riskiert … und meines gleich dazu.“
„Es tut mir leid, Kalani. Ich wollte ja nur … ich dachte, wenn ich vorsichtig wäre …“
„Und … warst du vorsichtig genug?“
„Nein.“ Die Stimme des Entleins war nun ganz leise.
„Nun, ich schätze, du hast diese Lektion auf die harte Tour gelernt und wirst das nächste Mal etwas besonnener handeln … Ja, wir haben alle unsere Fehler gemacht, auch ich, das habe ich längst begriffen. Hätte ich damals auf den Rat von Wayla gehört, wären wir beiden vielleicht noch am Leben…“ Sie seufzte und blickte dann wieder zu Inayo. „Aber Fehler sind dafür da, um daraus zu lernen. Also Kopf hoch … Übrigens, ein netter Trick an dem Wasserfall, als du diese vertikale Wand hochgelaufen bist. Ich wünschte, ich könnte das.“
„Hast du es schonmal ausprobiert?“
„Ha ha, natürlich nicht! Ich bin ein Wolf und kein Steinbock!“
Noch einmal blickte die Wölfin über den See:
„Ich frage mich, wo die weiße Ente hin ist. Wenn du dich erholt hast, ist es wohl das beste, wir kehren …“
In diesem Moment schreckte ein naher Angstschrei Wölfin und Entlein auf:
„Ah, ein Wolf! Ein Wolf am Teich!“
Es war Shera, die gerade zwischen zwei Felsblöcken am Ufer aufgetaucht war. Sofort erhob sie sich in die Luft, und mit ihr suchte ein schwarzer Erpel das Weite.
„Vater!“ rief Inayo, so laut es seine kleine Stimme hergab. „Vater! Ich bin‘s! Es ist alles gut.“
Die zwei Enten kreisten über Entlein und Wölfin, aber trauten sich erst zu landen, nachdem die Wölfin einige Meter zur Seite gegangen und sich am Ufer niedergelegt hatte. Dann näherten sie sich von der anderen Seite her Inayo, der voller Glück auf sie zuwatschelte. Papa Ente nahm seinen Sohn in seine Flügel, behielt aber währenddessen ein wachsames Auge auf den Wolf.
Shera neben ihm fragte:
„Ist das … äh … der Wolf, der dir deinen Namen gegeben hat?“
„Genau, sie ist meine Freundin und ihr Name ist Kalani.“
„Du hast einen Wolf als Freund?!“ fragte Papa Ente irritiert. „Da lässt man dich mal einen Moment aus den Augen, und gleich passieren die verrücktesten Dinge.“
„Das kannst du laut sagen, Papa. … Darf ich sie mit herbringen?“
Papa Ente überlegte: „Ich … ich weiß nicht, ob ich das möchte…“
Darauf meldete sich Shera: „Also ich für meinen Teil hätte nichts dagegen. Vielleicht bekomme ich ja noch ein paar neue Einsichten auf meine alten Tage.“
„Ja, und wenn dich der Wolf frisst, dann wird die einzige Einsicht darin bestehen, wie ein Wolf von innen aussieht.“ Papa Ente traute der Situation offenbar gar nicht.
„Papa, ich verspreche, sie wird euch nicht fressen. Sie hat nicht eine Ente gefressen, seit ich sie getroffen habe. Ganz im Gegenteil, sie hat mir sehr geholfen.“
„Na wenn du es sagst …“
Und das Entlein watschelte hinüber zu Kalani, die wieder einmal ihren Kopf auf die Pfoten gelegt hatte und in Gedanken versunken war. Als das Entlein sich näherte, schaute sie auf und sprach:
„Inayo, du hast nun deinen Vater gefunden, nicht wahr? Ich weiß, dass meine Anwesenheit die Enten ängstigt, und ich kann es ihnen nicht verübeln. Ich denke, es wäre das Beste, wenn die Seele und ich unsere Reise nun allein fortsetzen, und ihr drei macht das, was für euch am besten ist. Ich sollte mich jetzt verabschieden …
„Nein, bitte … bitte noch nicht, Kalani.“ antwortete das Entlein schnell. „Ich glaube, sie werden dich mögen, wenn sie dich kennenlernen. Du bist so eine liebe Wölfin!“
„Danke für deinen netten Worte, Inayo. Sie bedeuten mir viel. Nun … wenn du das wirklich meinst, dann werde ich euch Gesellschaft leisten.“
Und damit stand Kalani auf und lief langsam zu den beiden erwachsenen Enten hinüber, Inayo immer an ihrer Seite. Sie stellten einander vor und bald gab es ein lebhaftes Gespräch am Teichufer.
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Beide Seiten hatten viele Fragen und wollten erfahren, was die anderen in der Zwischenzeit so erlebt hatten. Natürlich wollte Inayo zu allererst wissen, was mit seiner Mutter passiert war, warum sie nicht zum Nest zurückgekehrt war und was mit seinen anderen Geschwistern dort oben passiert war. Sein Vater atmete tief ein und erzählte:
„Schau, äh … Inayo. Hab‘ ich das richtig gehört?“
„Genau, Papa.“
„Okay, Inayo. Ich kann deine Sorgen vollkommen verstehen. Aber glaube mir, deine Mutter und ich … wir waren gleichermaßen in Sorge über dich – eigentlich um alle unsere Kinder. Deine Mutter hatte einfach nur großes Pech. Sie hat mir erzählt, als dieses rote Ding plötzlich am Nest aufgetaucht ist, da hat sie solch einen Schreck bekommen, dass sie in Panik einfach weggeflogen ist. Ich soll dir sagen, es tut ihr sehr leid.“
„Sie lebt also!“. Das Küken war nun ganz aufgeregt.
„Ja, Inayo. Aber hör mir bitte noch zu. Sie hat sich mehr als ein Mal gescholten dafür, dass sie euch Kinder oben im Nest allein gelassen hatte. Aber die Strafe kam schnell, wenn man das so sehen will, denn als sie weggeflogen ist, ist sie in Panik durch einen Baum hindurchgeflogen und hat sich den linken Flügel an einem Ast verletzt …“
„War er gebrochen?“
„Nein, aber sie ist hart auf den Boden gefallen und der Flügel war verstaucht und tat sehr weh. Sie konnte also nicht mehr fliegen. Deine Mama hat zwar nach einiger Zeit versucht, zum Nest zurückzulaufen, nur … da kam sie natürlich mit dem kaputten Flügel nicht mehr hinauf. Sie hat zu euch Küken hinaufgerufen, aber war nicht sicher, ob sie gehört wurde. Und so habe ich sie vorgefunden, als ich zum Nest zurückkam. Sie saß unten im Teich und hat verzweifelt hochgerufen.
Und dann ist etwas Komisches passiert. Eines von deinen Geschwistern ist aus dem Nest gehüpft und neben ihr im Wasser gelandet, dann das nächste, und noch mehr, die wir überhaupt nicht kannten. Deine Mutter hat gesagt, es sah aus, als ob es Entenküken regnete. Natürlich haben wir uns gefragt, wie deine Geschwister auf die Idee gekommen sind, sie waren ja noch gar nicht flügge!“
„Ich schätze, ich weiß, wer sie auf die Idee gebracht hat …“
„Ich weiß es auch, wir haben sie natürlich gefragt. Sie haben uns berichtet, du seist als erstes gesprungen und wärest ohne Schaden gelandet. Allerdings konnten sie uns nicht sagen, was mit dir danach passiert war. Also hatten wir nun eine ganze Schar kleiner Küken auf dem Tümpel unten und deine Mutter, die nicht fliegen konnte. Da waren wir uns recht schnell einig, dass sie sich um die Küken kümmern würde – und ich, der fliegen kann, würde dich suchen.
Ich habe an dem Nachmittag und am nächsten Morgen die ganze Landschaft durchkämmt, ich habe jede Ente, jeden Wombat, jeden Kolibri nach dir gefragt, jeden. Bis ich schließlich einen grünen Kolibri getroffen habe, der mir erzählt hat, dass du wahrscheinlich durch den Wasserfall ganz im Norden gelaufen bis. Also habe ich gestern versucht, deine Spur in diese Richtung zu verfolgen.
Da gab es an einem Tümpel an einem Berghang eine nette weiße Entendame, die mir gesagt hat, dass du einige Stunden zuvor dort vorbeigekommen warst. Und du seist über den Canyon rübergesprungen. Leider konnte ich im Folgenden keine Spur mehr von dir finden, und nachdem ich aus der Luft noch etwas gesucht, aber dich nicht gesehen hatte, bin in einen seltsamen Sturm gekommen, der mich durch eine Höhle geschleudert hat. Ich habe nie zuvor in meinem Leben so etwas erlebt.“
„Wir sind da auch durchgeflogen, Papa.“
„Du und der Wolf?“
„Ich und … äh … ich erklär‘s dir später.“
„Na gut, jedenfalls bin ich dann zu den Enten am Vogelbaum gekommen und diese nette Lady neben mir – er deutete auf Shera – hieß mich willkommen und hat mir die Landschaft gezeigt und hat versprochen, mich zu informieren, falls du eintreffen solltest. Ich wollte eigentlich noch weitersuchen, aber sie meinte, du könntest unmöglich jenseits des großen Wasserfalls sein. Was meinst du wie glücklich ich war, als sie vorhin kam und sagte, du seist da. Übrigens, vielen Dank für alles, Shera.“
„Gern geschehen. Ich bin vielleicht alt, aber man ist nie zu alt zum Helfen.“
„Und was ist nun mit Mutter und den anderen? Geht es ihnen gut?“
„Ich nehme es an, aber seit ich gestern zum Wasserfall im Norden fortgeflogen bin, habe ich sie ja auch nicht mehr gesehen.“
„Oh … okay.“
„Aber nun, Inayo, nun bin ich gespannt auf deine … auf eure Geschichte. Wie du zu dem Wolf gefunden hast, und hierher und … überhaupt, wo hast du den Namen her?“
Und nun erzählten ihm Inayo und die Wölfin die Geschichte ihrer Suche.
Die Seele betrachtete die Gesellschaft aus einiger Entfernung. Sie hatte es ja zum Glück nicht eilig…
Am nächsten Tag entschieden sich Wolf und Seele doch zur Abreise. Bevor sie aber gingen, schauten sie sich auch hier nach Pilzen um, und mit der alteingesessenen Shera an ihrer Seite war die Pilzsuche ein Kinderspiel. Sie erzählte ihnen auch, dass es Pilze unter Wasser gab und die Wölfin demonstrierte ihr dafür ihre Fähigkeit, sich in andere Tiere hineinzuversetzen. Im Körper eines Fisches konnte sie diese Pilze aufspüren und hatte auch einigen Spaß dabei.
Shera meinte dazu:
„Ich dachte wirklich, in meinem Alter sei ich weise geworden und wüsste fast alles. Aber in den letzten beiden Tagen habt ihr mir gezeigt, dass es da draußen eine ganze Welt gibt, die jenseits meiner Vorstellungskraft liegt. Küken, die durch die Luft laufen, Mauern, die verschwinden, Wölfe, die sich in andere Tiere verwandeln können … Kalani, wenn ich nur etwas jünger wäre, würde ich darum bitten, dich und diese Seele auf eurer Reise begleiten zu dürfen. Einfach aus Neugier.“
Die Wölfin lachte. „Ich hatte mich schon recht daran gewöhnt, eine Ente zu sein. Aber wenn ich ehrlich bin, ich habe auch nichts dagegen, mal wieder einfach ein Wolf zu sein. Oder ein Fisch. Vielleicht fange ich mir auch eines Tages einen Kondor, und dann gehe ich wieder in die Luft.“
Bald darauf verabschiedeten sich die Wölfin und die Seele von den drei Enten. Diese wünschten ihnen eine gute Weiterreise und baten sie, eines Tages vorbeizuschauen und von den Abenteuern zu berichten, die sicherlich noch folgen würden.
Dann schlüpfte die Wölfin in den Körper eines Fisches, schwamm über den Teich und durch die Öffnung zum großen Wasserfall. Die Seele folgte ihr wie gewohnt.
Kapitel 9 – Epilog
Inayo und sein Vater verblieben die nächsten Tage noch am See. Er trainierte seine Flügel, deren Federn nun zusehends länger wurden. Ab und zu sprang er von dem kleinen Wasserfall in den Teich um zu prüfen, wie weit sie ihn schon tragen würden. Oder er versuchte, auf die Felsen am Ufer hinaufzuspringen. Und tatsächlich verbesserten sich seine Flugfähigkeiten von Tag zu Tag.
Eine Woche, nachdem Wölfin und Seele weitergereist waren, kamen Inayos Mutter und all seine Geschwister an der Entenwiese an. Der Flügel seiner Mutter war wieder gut verheilt, und seine Geschwister waren auch nicht untätig gewesen. Auch sie konnten inzwischen recht gut fliegen. Das gab ein großes Hurra unter den Vogelbaum. Aber am glücklichsten war sicher Mama Ente, die endlich wieder alle ihre Kinder gesund vereint um sich hatte.